Partner für soziale Arbeit

Aktuelles

  • Schlagwort Aus dem Verband
  • Organisation Immobilienmangel trifft auf überfordertes Ehrenamt
  • Art Meldungen
  • Veröffentlichungsdatum 08.04.2024

Guter Wille reicht nicht – Berliner Kältehilfe vor dem Aus

Immobilienmangel trifft auf überfordertes Ehrenamt

Obdachlosigkeit © Petra Engel

Zum Ende des Winters ziehen AWO, Caritas, Diakonie, DRK und Paritätischer Wohlfahrtsverband Bilanz: Berlin hat ein nachhaltiges Problem mit der Notversorgung Obdachloser in der lebensgefährlichen Jahreszeit. Der Platzmangel ist eklatant. Das Land zeigt guten Willen – aber die Verdrängung an den Stadtrand schreitet fort. Falls überhaupt brauchbare Immobilien gefunden werden. [Zahlen finden Sie am Ende der PM]

Am 20. Dezember 2023 stellt die Unionhilfswerk Soziale Dienste gGmbH in einem leerstehenden Bürogebäude am Goslarer Platz spontan 150 Feldbetten auf. Sie ermöglichen dutzenden Obdachlosen ein Weihnachtsfest im Warmen, retten einigen vielleicht sogar das Leben. Der Senat stellt fest, dass die Kältehilfe damit „gut gewappnet“ sei. Die Realität sieht anders aus: Beispielsweise sind acht der Plätze in dieser Einrichtung Menschen im Rollstuhl vorbehalten. Allerdings müssen sie es schaffen, selbständig ins Bett zu kommen, sich selbständig an- und ausziehen und ohne fremde Hilfe auf die Toilette zu gehen. Duschen ist aufgrund der Gegebenheiten vor Ort nicht möglich. Aus Sicht der Wohlfahrtsverbände ein gravierendes Beispiel für die dramatische Situation der Kältehilfe.

Andrea Asch, Diakonie-Vorständin und LIGA-Federführung: „Der vergangene Winter hat einmal mehr gezeigt: die Kältehilfe hat ihre Belastungsgrenze weit überschritten – mit Ansage. Im September haben wir darauf hingewiesen, dass hunderte Plätze fehlen. Und wieder einmal konnte sich die Kältehilfe nur mit kurzfristig eröffneten, personell und räumlich schlecht ausgestatteten Angeboten durchlavieren. Kältehilfe wird zunehmend in ungeeigneten Immobilien mit unzureichenden Standards auf den Schultern von Ehrenamtlichen getragen. Die Ehrenamtlichen sind mit den vielfältigen Problemlagen der Gäste, mit psychischen und Suchterkrankungen, mit Pflegebedürftigkeit und massiven Gehbehinderungen, mit Wundversorgung und Ungezieferbehandlung massiv überfordert. Es ist verständlich, dass sie niemanden ablehnen möchten. So kann es aber nicht weitergehen. Land und Bezirke müssen jetzt an einem Strang ziehen und ihrem Schutzauftrag nachhaltig gerecht werden - mit einer ganzjährigen menschenwürdigen Versorgung.

Prof. Dr. Ulrike Kostka, Direktorin des Caritasverbandes für das Erzbistum Berlin: „Die Kältehilfe offenbarte einmal mehr die schlechte gesundheitliche körperliche Verfassung vieler unserer Gäste. Gesundheit ist ein Menschenrecht. Wir benötigen dringend ein gut aufgestelltes und auskömmlich finanziertes System der medizinischen Versorgung insbesondere für nicht krankenversicherte obdachlose Menschen. Dies gilt auch für die nach wie vor ungelöste prekäre Finanzierungssituation unserer Caritas-Krankenwohnung und unserer Caritas-Ambulanz für Wohnungslose.“

Gudrun Sturm, Landesgeschäftsführerin des Berliner Roten Kreuzes: „Die Zahlen der Saison 2023/2024 unterstreichen erneut die dringende Notwendigkeit der Arbeit der Berliner Kältehilfe sowie unseres DRK-Wärmebus-Teams. Unsere Helferinnen und Helfer hatten Kontakt zu 2.239 obdachlosen Menschen, was einem Anstieg um 40 Prozent im Vergleich zum Vorjahr entspricht. 529 Personen wurden in Unterkünfte befördert und 495 wärmende Kleidungsstücke ausgegeben. Mein aufrichtiger Dank gilt allen, die ihren Beitrag geleistet haben, sei es durch ehrenamtliches Engagement, Spenden oder aufmerksames Handeln. Insgesamt gingen beim DRK-Wärmebus 926 Anrufe von achtsamen Berlinerinnen und Berlinern ein, die hilfsbedürftige Menschen gemeldet haben.“

Oliver Bürgel, Geschäftsführer Arbeiterwohlfahrt Landesverband Berlin: „Die Landesfinanzierung reicht bei weitem nicht für multiprofessionelle Betreuungsteams aus. Gleichzeitig müssen wir feststellen, dass die ordnungsrechtlich vorgeschriebene bezirkliche Unterbringung in Wohnheimen, Hostels und Pensionen nicht im ausreichenden Maße stattfindet und die nicht untergebrachten Menschen in der Kältehilfe Schutz suchen. Eine Unterbringung nach dem Sicherheits- und Ordnungsgesetz des Landes Berlin, sog. ASOG-Unterbringung, bedeutet für die wohnungslosen Menschen einen festen Schlafplatz, der ihnen durchgehend zur Verfügung steht, sowie feste Koch- und Waschmöglichkeiten. Dies würde zu einer erheblichen Verbesserung ihrer Lebenssituation führen. Zudem haben wir mit der 24/7-Notunterkunft für Frauen ein Modell, welches dringend flächendeckend etabliert werden muss. Denn hier werden Menschen nicht nur verwahrt, sondern dabei unterstützt eine neue Perspektive zu entwickeln.“

Prof. Dr. Gabriele Schlimper, Geschäftsführerin Paritätischer Wohlfahrtsverband Berlin: „Viele Menschen, die auf der Straße leben, haben eine Suchterkrankung bzw. sind psychisch krank. Das hat sich auch in der vergangenen Kältehilfesaison nicht geändert. Unser Hilfesystem schafft es immer noch nicht, diese Menschen so zu unterstützen, dass sie aus ihrer Notlage herauskommen. Das ist bitter. Die bürokratischen Anforderungen, um Termine, Entzugsplätze oder eine entsprechende Unterstützung zu bekommen, sind einfach zu hoch. Es ist gut, dass es in Berlin Housing First Angebote gibt, doch das reicht bei weitem nicht. Es muss endlich mehr niedrigschwellige, bereichsübergreifende Angebote geben. Es geht darum, diese Menschen so zu unterstützen, wie sie es brauchen und nicht, wie Paragrafen und Zuständigkeiten es regeln. Nur so und mit ausreichenden bezahlbaren Wohnungen können wir wirklich etwas für die Menschen und gegen die Obdachlosigkeit tun.“

Mit der Berliner Kältehilfe schützen Kirchengemeinden, soziale Träger und Hilfsorganisationen wohnungslose Menschen von Oktober bis April vor dem Erfrieren. Im Oktober und April gibt es witterungsbedingt nur ein reduziertes Angebot, während in den kalten Wintermonaten November bis März deutlich mehr Plätze zur Verfügung stehen. Im vergangenen Winter ging die Nachfrage bereits im Oktober steil nach oben. Mit 614 Plätzen in 25 Übernachtungsangeboten, sprich Notübernachtungen und Nachtcafés, lag die durchschnittliche Auslastung bei 91%. Während sie zu Beginn des Monats noch relativ gering war, stieg sie Mitte Oktober auf über 95% und Ende Oktober sogar auf über 100%. Mit dem erweiterten Angebot ab November von gewichtet 1.005 Plätzen in 38 Übernachtungsangeboten entspannte sich die Lage wieder auf durchschnittliche 89%, allerdings stieg die Auslastung zum Ende des Monats auf knapp 97%, was noch dadurch verschärft wurde, dass eine Einrichtung mit 80 Plätzen zum 30.11. geschlossen werden musste. Relative Entspannung trat dann erst wieder mit der kurzfristigen Eröffnung zweier weiterer Angebote in der zweiten Dezemberhälfte mit insgesamt 172 Plätzen ein. Erst zum Rest des Winters blieb die Platzzahl von 1.179 Plätzen in 39 Übernachtungsangeboten sowie die Auslastung mit durchschnittlich 89% relativ stabil. Damit waren erstmals Einrichtungen in den schwer erreichbaren Randbezirken ausgelastet und zentralere Einrichtungen regelmäßig überbelegt.

Bemerkenswert ist, dass in diesem Winter viele Einrichtungen auch im April noch geöffnet bleiben. So stehen in der ersten Aprilhälfte noch gut 1.100 Plätze zur Verfügung und in der zweiten Aprilhälfte noch knapp 1.000 Plätze. Das verhindert die Überlastung der regulären, ganzjährigen Notübernachtungen ab April.

Berlin will bis zum Jahr 2030 Wohnungslosigkeit beseitigen. Nur mit personell und strukturell ausreichend ausgestatteten Unterkünften, die allen wohnungslosen Menschen offenstehen und ganzjährig sowie ganztägig genutzt werden können, wird es gelingen, eine Perspektive aus der Straßenobdachlosigkeit zu entwickeln. Dann können unsere Ehrenamtlichen ihre Ressourcen dafür einsetzen, wohnungslose Menschen zu empowern, anstatt sie nur mit dem Lebensnotwendigen zu versorgen!

Hintergrund: LIGA der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege
In der LIGA der Spitzenverbände der Freien Wohlfahrtspflege haben sich in Berlin das Diakonische Werk Berlin-Brandenburg-schlesische Oberlausitz (Federführung 2023/24), der Caritasverband für das Erzbistum Berlin, die Arbeiterwohlfahrt (AWO) Landesverband Berlin, der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband Landesverband Berlin, der DRK Landesverband Berliner Rotes Kreuz sowie die Jüdische Gemeinde zu Berlin zusammengeschlossen. In den sozialen Einrichtungen, Diensten und Projekten der LIGA sind in Berlin rund 107.000 hauptamtliche und etwa 53.000 ehrenamtliche Mitarbeitende tätig. Rund 150.000 Menschen sind zusätzlich persönliche Mitglieder in den Verbänden der LIGA Berlin, die wiederum ca. 1.200 Initiativen und Träger vertreten.

Kontakt beim Paritätischen Berlin

Daniela Radlbeck
Referentin Wohnungsnotfallhilfe und Wohnungspolitik
Telefon: 030 86 001-180
E-Mail: radlbeck[at]paritaet-berlin.de

Aktuelles