Partner für soziale Arbeit

Aktuelles

  • Schlagwort Aus den Mitgliedsorganisationen
  • Art Meldungen
  • Veröffentlichungsdatum 18.10.2023

Offener Brief: Forderung nach bedarfsgerechter Finanzierung von Kinderbereichen der Berliner Anti-Gewalt-Projekte

© Unsplash/Kevin Gant

Sehr geehrte Frau Senatorin,

sehr geehrte Frau Staatssekretärin,

sehr geehrter Herr Senator,

sehr geehrte Frau Niemczyk,

sehr geehrte Frau Golm,

sehr geehrte Frau Dr. Haghanipour

sehr geehrte Frau Schmidt,

ein leises, oft übersehenes Leiden prägt die Lebenswelt vieler Kindern in Berlin: In Frauenhäusern und Zufluchtswohnungen leben mehr Kinder als Frauen. Im Jahr 2022 berichtet die Frauenhauskoordinierung, dass deutschlandweit auf eine Frau im Frauenhaus durchschnittlich 1,2 Kinder kommen. Dabei lebt nur ein Bruchteil der von Häuslicher Gewalt betroffenen Frauen und deren Kinder in Schutzeinrichtungen. Zum Vergleich: Im Jahr 2022 wurden in der polizeilichen Kriminalstatistik für Berlin 17.263 Fälle von innerfamiliärer/partnerschaftlicher Gewalt berichtet. Aktuell hat Berlin 462 Frauenhausplätze, 15 Clearingstellenplätze, davon sind pro Frau 1,5 Plätze für Kinder vorgesehen. In Zufluchtswohnungen stehen rund 134 Plätze für Frauen zur Verfügung, zusätzlich zu Plätzen für deren Kinder.

Sowohl innerhalb als auch außerhalb von Schutzeinrichtungen besteht ein dringender Bedarf an Unterstützung für diese Kinder. Eine Studie aus dem Jahr 2017, die in fünf Frauenhäusern in Baden-Württemberg durchgeführt wurde, ergab, dass 64% der betroffenen Kinder behandlungsbedürftige 2 Verhaltensauffälligkeiten aufwiesen, darunter Traumafolgestörungen. Zusätzlich zeigten 23% der Kinder auffälliges Verhalten im Grenzbereich, wie emotionale Probleme (Himmel et al., 2017). Diese Ergebnisse wurden in verschiedenen Studien bereits vielfach bestätigt (Ahem, 2017; Vu et al., 2016).

Diese alarmierenden Zahlen verdeutlichen den immensen Bedarf an Unterstützung für Kinder in Schutz- und Beratungseinrichtungen. Die Herausforderungen, vor denen diese Kinder stehen, sind jedoch nur schwer zu bewältigen, da die Projekte nicht über ausreichende personelle und strukturelle Ressourcen verfügen, um den Bedürfnissen der minderjährigen Betroffenen gerecht zu werden.

In einer Befragung Mitte September haben wir beispielhaft 3 Frauenhäuser, 3 Zufluchtswohnungen, 2 Beratungsstellen mit Kinderbereichen sowie die Clearingstelle in Berlin kontaktiert, um die dringende Situation für Kinder in solchen Einrichtungen zu beleuchten.

Unzureichender Personalschlüssel: Alle Projekte berichteten über zu wenig Stellen für den Kinderbereich, um die zahlreichen Kinder angemessen zu versorgen. Die Zentrale Informationsstelle autonomer Frauenhäuser (ZiF) empfiehlt einen Personalschlüssel von mindestens 1:5 (1 Fachkraft in Vollzeit auf 5 Plätze), unsere Erhebung ergab, dass keines der befragten Projekte diesen Schlüssel vorweisen kann.

• Kein Raum für Kinder: Die Hälfte der Projekte verfügt über keinerlei separaten Raum für die Beratung und Betreuung von Kindern.

Ungeeignete Räume: Etwas mehr als die Hälfte der Projekte fehlt es an geeigneten Räumlichkeiten für die Kinder. Häufig entsprechen die Räume nicht den speziellen Bedürfnissen der Kinder, dazu zählen barrierefreie Zugänge für Rollstühle bzw. Kinderwägen oder auch angemessene Räumlichkeiten für traumatisierte oder psychisch kranke Kinder.

Fehlende Räume für Jugendliche: Sämtliche befragten Schutzeinrichtungen berichten, dass sie keine geeigneten (Rückzugs-)Räume für die Jugendlichen haben.

Unzureichende Finanzierung und fehlende Planbarkeit

Zahlreiche Projekte bemühen sich schon länger um eine bessere personelle und strukturelle Ausstattung der Kinderbereiche, hier nur ein paar Beispiele:

Das Hestia-Frauenhaus beantragte bereits seit Jahren mehr Personal für den Kinder- und Jugendbereich. Erst zum letzten Antrag gab es eine formelle Antwort auf diesen Antrag - eine Ablehnung dieser Stellen. Aktuell dienen die Verhandlungen des nächsten Doppelhaushalts als Grund für die Ablehnung, doch es gibt den Notstand im Kinder- und Jugendbereich bereits seit Jahren und eine planungssichere Perspektive für mehr Stellen ist nicht in Aussicht.

Das Projekt von BIG e.V. Mobile Begleitung Kinder, ein niedrigschwelliges Beratungsangebot für Mütter und ihre Kinder, wartet auf eine schriftliche Zusage für die Weiterfinanzierung. Das Projekt wurde in 2021 und 2022 mit Hilfe von Spenden- und Bußgeldern aufgebaut und wird in 2023 überwiegend mit Lotto-Mitteln finanziert. Das Projekt wird überrannt mit Anfragen, die aktuell von drei Mitarbeiterinnen in Teilzeit abgedeckt werden.

Die Zufluchtswohnung Offensiv 91 hat im Kinderbereich nur eine Mitarbeiterin mit 12 Wochenstunden, die aktuell für 13 Kinder zuständig ist. Sie benötigt dringend mehr Stunden und entsprechende Räumlichkeiten, um dem tatsächlichen Bedarf gerecht zu werden.

Alle Projekte haben eins gemeinsam, es fehlen den meisten Projekten schriftliche Finanzierungszusagen. Diese werden voraussichtlich erst im Dezember folgen. Diese finanzielle Unsicherheit hat gravierende Folgen, neben existenziellen Sorgen der Mitarbeiter*innen hat es vor 3 allem eine Konsequenz: hoch qualifizierte und erfahrene Mitarbeiter*innen orientieren sich um in Richtung eines sicheren Arbeitsverhältnisses in anderen Bereichen.

Angesichts dieser bereits langandauernden und besorgniserregenden Situationen erheben wir folgende Forderungen für den Haushalt 2024/2025:

• Erhöhung des Personals und der Arbeitsstunden: Die Einrichtungen benötigen dringend zusätzliches Personal und eine Aufstockung der Arbeitsstunden, um eine angemessene Unterstützung der Kinder sicherzustellen.

• Anpassung der Räumlichkeiten an die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen: Die Einrichtungen müssen dabei unterstützt werden, ihre Räumlichkeiten an die Bedürfnisse und das Alter der Kinder und Jugendlichen anpassen zu können. Dies schließt kindgerechte Ausstattungen und barrierefreie Zugänge für Kinder mit besonderen Bedürfnissen ein.

• Rechtzeitige Finanzierungszusagen: Die Einrichtungen benötigen frühzeitige und gesicherte schriftliche Zusagen über die Finanzierung. Dies mindestens drei Monate vor Auslaufen der laufenden Förderperiode.

• Regelmäßige und gesicherte Fortbildungsmöglichkeiten: Das Fachpersonal muss finanzielle Mittel und zeitliche Ressourcen für regelmäßige und gesicherte Fortbildungen erhalten, um effektiv auf die komplexen Bedürfnisse der Kinder und Jugendlichen eingehen zu können.

Forderungen der Istanbul-Konvention in Berlin umsetzen

Die Istanbul-Konvention fordert einen Zugang zu Hilfsdiensten für Kinder in denselben Räumen in denen auch die von Gewalt betroffenen Frauen/Mütter Unterstützung erhalten. Und auch GREVIO appellierte in ihrem Bericht an die Behörden, in die Verfügbarkeit von „ganzheitlicher und flächendeckender Unterstützung für Kinder“ zu intensivieren und sicherzustellen, dass „sich eine Reihe einschlägiger Dienste für Opfer und betroffene Kinder in denselben Räumlichkeiten befinden“. Es braucht nun endlich eine Umsetzung der Forderungen für die Kinder in der Berliner Hilfelandschaft.

Mit freundlichen Grüßen

Die Kinderbereichs-AG der Anti-Gewalt-Projekte

2. Autonomes Frauenhaus

BIG e.V. – Mobile Begleitung Kinder

Frauenhaus Cocon

Frauenzimmer e.V.

Hestia e.V

Interkulturelle Initiative e.V.

Offensiv 91 e.V.

SkF e.V. – Frauentreffpunkt

Zuff e.V.

Heidemarie-Fischer-Haus