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  • Veröffentlichungsdatum 18.10.2023

Kompendium zur kompetenten Hilfe beim Absetzen von Antidepressiva und Neuroleptika

Paritätischer Wohlfahrtsverband Berlin unterstützte Psychexit-Forderung nach einem Unterstützungsprogramm

© Unsplash/Eric Ward

Am 2. Dezember 2022 lief die siebte und letzte Psychexit-Expertenrunde. Die Psychexit-Arbeitsgruppe besteht aus einer Handvoll unabhängiger und meist psychiatriebetroffener Aktivistinnen und Aktivisten in Berlin, die die jährlich stattfindenden Expertenrunden planen und durchführen, zuletzt in Partnerschaft mit dem Landesverband der Angehörigen psychisch erkrankter Menschen Berlin e.V., unterstützt von der Selbstvertretungsorganisation Kellerkinder e.V. und finanziert vom Paritätischen Wohlfahrtsverband Berlin.

Als unmittelbare Folge der Gleichgültigkeit gegenüber den Abhängigkeitsrisiken und der unterlassenen Hilfe beim Absetzen bei Millionen von Patientinnen und Patienten entsteht körperliche Abhängigkeit samt Folgeschäden durch viel zu häufige Verordnung und Langzeitverabreichung (auch wegen unterlassener Absetzversuche). Sie geht oft einher mit einer massiven Einbuße der Lebensqualität der Betroffenen und ihrer Familien sowie im Falle der Neuroleptika mit dem Risiko einer verminderten Lebenserwartung der Betroffenen aufgrund der Langzeitverabreichung bei unerwünschten kardialen und metabolischen und vermutlich auch irreversiblen motorischen Wirkungen und dies bei von vornherein vulnerablen körperlichen Konditionen. Mittelbare Folgen sind volkswirtschaftliche Schäden vermutlich in Milliardenhöhe durch Kosten der Überverordnung, der Langzeitverabreichung, durch Chronifizierung und Therapie behandlungsbedingter Schäden, unselbstständigem Leben und Betreuung der Geschädigten in Behindertenwerkstätten, betreutem Wohnen, Unterbringung in Altenheimen, Arbeitslosigkeit, Frühberentung etc. Wie viele leidvolle Leben und Lebensjahre damit einhergehen, kann nur erahnt werden.

Die Psychexit-AG packte die ungelösten Probleme an, die sich mit fehlender  Unterstützung beim Absetzen ärztlich verschriebener Psychopharmaka ergeben und vor denen die Verbände der Psychiatrie (z.B. DGPPN, Aktion Psychisch Kranke) und der Selbsthilfe (z.B. BPE, NetzG) bisher größtenteils die Augen verschließen. Ziel war die Erstellung eines Kompendiums zur kompetenten Hilfe beim Absetzen von Antidepressiva und Neuroleptika (Antipsychotika).

Das Thema der 7. Tagung lautete »Die Vorenthaltung von Informationen über Absetz- und Entzugsprobleme bei Antidepressiva und Neuroleptika und von Hilfen beim Reduzieren als menschenrechtliches Problem«. 2015 verlangte die Arbeitsgruppe Willkürliche Unterbringung des Menschenrechtsrats der Vereinten Nationen in der Richtlinie 20 einen wirksamen Rechtsschutz für Menschen mit Behinderungen. Menschen mit psychiatrischen Diagnosen zählen zu diesem Personenkreis. Die Arbeitsgruppe forderte in ihrem Bericht an die Generalversammlung der UN Hilfsprogramme:

»Solche Hilfsprogramme sollten sich nicht auf die Bereitstellung psychosozialer Dienste oder Behandlungen konzentrieren, sondern kostenlose oder erschwingliche gemeindenahe Dienste einschließen, ebenso Alternativen, die frei von medizinischen Diagnosen und Eingriffen sind. Der Zugang zu Medikamenten und die Unterstützung beim Absetzen von Medikamenten sollte denjenigen zur Verfügung gestellt werden, die sich dafür entscheiden.«

Im gleichen Jahr wurde diese Forderung in die Richtlinie 14 (»Freiheit und Sicherheit der Person«) der UN-Behindertenkonvention aufgenommen.

Bei Psychexit 7 wurden diese Referate gehalten: »Psychopharmaka absetzen? Warum, wann und wie?« (Prof. Dr. med. Gerhard Gründer, Zentralinstitut für Seelische Gesundheit, Mannheim); »Menschenrechtliche Anforderungen bei der Arzneimittelgabe« (Dr. jur. Sabine Bernot, Deutsches Institut für Menschenrechte); »Einstellungen von verschreibenden Ärzt*innen in Bezug auf Reduktion und Absetzen von Psychopharmaka – ist das menschenrechtskonform?« (Prof. Dr. med. Sebastian von Peter, Hochschulklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Medizinischen Hochschule Brandenburg); »Behandlung mit Psychopharmaka und informeller Zwang: ethische und menschenrechtliche Aspekte« (Prof. Dr. med. Georg Juckel, Ärztlicher Direktor des LWL-Universitätsklinikums Bochum); »Unzureichende Unterstützung beim Absetzen von Psychopharmaka: eine Menschenrechtsverletzung – Beobachtungen aus Griechenland« (Dr. phil. Dipl.-Psych. Anna Emmanouelidou, Observatorium für Menschenrechte im Bereich der psychischen Gesundheit, Thessaloniki).

Alle Vorträge samt nachfolgende Diskussionen können als Videoaufzeichnungen unter www.peter-lehmann.de/psychexit.htm#7 angeschaut oder nachgelesen werden. Auf dieser Website – wie auch unter www.absetzen.info – findet man auch die Referate der früheren Tagungen, unter anderem beantwortete Volkmar Aderhold unsere Frage zum Absetzen von Neuroleptika: »Wann – wie – wann nicht – Und wenn trotzdem: was dann?«, Jann Schlimme informierte über das Absetzen von Kombinationen, einem bisher völlig im Dunkeln liegenden Thema. Auch referierte er gemeinsam mit Uwe Gonther zur Technik der Medikamentenreduktion, Martin Zinkler über das modellhafte Unterstützen beim Absetzen in der Psychiatrischen Klinik Heidenheim gemäß § 64b SGB 5, Regina Bellion über kompetentes Absetzen in Selbsthilfe und Marina Langfeldt über Schadensersatzansprüche gegenüber pharmazeutischen Unternehmen aus der Gefährdungshaftung gemäß § 84 des Arzneimittelgesetzes. Die Referate bei Psychexit 6 befassten sich mit der Frage, was zu tun ist, damit Krankenkassen in Leistungen investieren, die Betroffenen helfen, aus der Spirale immer neuer Psychopharmakaverschreibungen und dem Teufelskreis immer neuer psychopharmakabedingter Erkrankungen herauszukommen.

Nachdem die Psychexit-AG nun acht Jahre tätig war, hat sie beschlossen, den Staffelstab an diejenigen weiterzugeben, die in die gleiche Richtung arbeiten wollen. Viele Fragen sind noch offen: Wie können staatliche Förderprogramme für notwendige Forschungen aussehen? Wie kommt man zu interdisziplinären Informations- und Beratungszentren? Wer erstellt Statistiken von Fallzahlen, um den Handlungsbedarf zu decken? Angesichts der Masse verschriebener Antidepressiva und Neuroleptika dürften Millionen von Menschen betroffen sein. Wie hoch ist der volkswirtschaftliche Schaden, der durch Fehlinformation über Abhängigkeits- und Entzugsprobleme und durch inkompetente oder unterlassene Hilfe beim Absetzen ärztlich verschriebener Psychopharmaka entsteht? Wer stellt eine Dokumentation über Einzelschicksale zusammen? Wer findet Politikerinnen und Politiker, die sich proaktiv für die Betroffenen einsetzt, denen wegen unerträglicher Entzugssymptome die Teilhabe am Leben verwehrt bleibt?

Als AG und Einzelpersonen wird es die Psychexit-AG weiterhin geben. Gerne lassen wir uns zu Symposien, Referaten, Stellungnahmen, Fortbildungen oder Podien einladen.

Peter Lehmann, Berlin 

 

Wissenswertes
Peter Lehmann, Kontakt: mail@peter-lehmann.de ,www.peter-lehmann.de

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