Zwischen Aufbruchstimmung und Hürdenlauf
Nach der Wende 1989 musste sich auch die soziale Arbeit in Ostberlin neu erfinden. Der große Umbruch brachte für die Menschen viele Veränderungen. Einige nahmen das Schicksal in dieser Zeit der Unsicherheit selbst in die Hand und gründeten Initiativen oder Vereine. Sie wollten Brücken in die neue Lebenswirklichkeit bauen, ganz konkrete Unterstützung für die Probleme der Menschen anbieten. Es entstanden neue soziale Träger, die sich selbst auf ihrem Weg in die neue Zeit erst noch orientieren mussten. Der Paritätische Wohlfahrtsverband Berlin unterstützte diese Träger mit Rat und Tat.
Kiek in e.V.: „Kreativ sein, Glück haben und gut vernetzt sein“
Die Zeit nach der Wende war geprägt von Veränderungen und Unsicherheiten, aber auch von Gelegenheiten. So blickt Gabriele Geißler von Kiek in e.V. zurück. Auf ehrenamtlicher Basis haben sieben engagierte Menschen den Verein 1992 in Marzahn gegründet. „Sie hatten festgestellt, dass die Menschen in Großsiedlungen wie in Marzahn besondere Probleme mit dem Umbruch hatten. Sie wollten ihnen Orientierung und Unterstützung geben“, erzählt Gabriele Geißler, die kurz nach der Gründung zu Kiek in kam und seit 1996 Geschäftsführerin des Trägers ist. Das erste Projekt hat Kiek in im April 1993 gestartet, finanziert über ABM (Arbeitsbeschaffungsmaßnahme). „Zeitgleich wurde in der Märkischen Allee 414 eine Kita aufgelöst. Deren Räume wurden von uns regelrecht besetzt“, sagt Gabriele Geißler über diesen ersten Standort für die generationenübergreifende Nachbarschaftsarbeit.

Der in der Wendezeit gegründete Träger und seine Tochter, die Kiek in – Soziale Dienste gGmbH, sind heute breit aufgestellt. Kiek in hat drei Standorte und 55 Mitarbeitende, betreibt ein Nachbarschafts- und Familienzentrum und zwei weitere Stadtteilzentren, eine große Kita, ein Familienzentrum an einer Grundschule, einen Frauentreff und er macht Schulsozialarbeit. Diese Struktur aufzubauen, war nicht leicht. „Unser größtes Problem damals war, eine sichere Finanzierung zu finden“, sagt Gabriele Geißler. „Es begann alles auf ehrenamtlicher Basis und es war ein mühsamer Weg bis zum ersten Projekt“, so die Geschäftsführerin. Vieles wurde damals über ABM-Stellen finanziert. Aber nicht nur deren Befristung war schwierig: „So konnte die soziale Arbeit nicht gut gewährleistet werden. Das Arbeitsamt hatte oft ganz andere Prioritäten. Wir mussten zum Beispiel regelmäßig belegen, dass die geförderten Stellen nicht mit dem ersten Arbeitsmarkt konkurrieren.“
Die Nachbarschaftsarbeit ist heute fest in Marzahn verankert. Die Situation hat sich seit der Wende stabilisiert, ohne Probleme ist sie aber nicht. Wie alle Träger hat es auch Kiek in schwer, neue Fachkräfte zu finden. Doch das ist nur eine Herausforderung. „Ich sehe auch heute die Schwierigkeit, aufgrund begrenzter Projektlaufzeiten eine Fortsetzung von Projekten zu gewährleisten“, sagt die Geschäftsführerin. Das Zuwendungsrecht, das meist nur kurzzeitige Finanzierungen zulässt und sehr bürokratisch ist, sei eine Hürde. „Das hilft dem Stadtteil nicht, wenn alles, was wir mühsam aufgebaut haben, nicht weiter finanziert wird. Das verstehen auch die Menschen schlecht“, sagt Gabriele Geißler. Eine wichtige Verbesserung sei deshalb die Rahmenförderung für die Stadtteilzentren. Denn eine sichere Finanzierung braucht Kiek in ebenso wie drei andere Dinge, die laut Gabriele Geißler das Gelingen ihrer Arbeit gewährleisten: „Kreativ sein, Glück haben und gut vernetzt sein.“
Den Paritätischen Berlin hat Gabriele Geißler in der Wendezeit als sehr hilfreich erlebt. Sie betont: „Alles war ja für uns neu. Wir waren sehr froh, dass wir uns in fachlichen und organisatorischen Fragen an den Verband wenden konnten. Der Paritätische sowie der Verband für sozial-kulturelle Arbeit (VskA) haben unsere Arbeit stark bereichert.“
offensiv'91 e.V.: „Die größte Herausforderung in der Wendezeit war die, als freie Träger zu überleben“
„Niederschöneweide war zu DDR-Zeiten ein wichtiger Industriestandort. Nach der Wende war hier die Arbeitslosigkeit dann besonders hoch“, beschreibt Grit Rohde die Situation Anfang der 1990er Jahre im Südosten Berlins. Die neue Situation sei geradezu auf die Menschen eingestürzt und habe viele Probleme verursacht. „1991 haben sich dann zehn Frauen auf den Weg gemacht. Sie haben überlegt, wie sie vor allem Frauen entlasten und ihnen Unterstützung geben können“, sagt Grit Rohde. So ist der offensiv'91 e.V. entstanden.
Grit Rohde selbst kam im November 1994 zum Verein. „Der Träger hatte damals bereits viele kleine Projekte und es ging nun darum, eine Frauenzufluchtswohnung aufzubauen. Gewalt gegen Frauen war damals ein zunehmendes Problem“, erzählt die heutige Stadtteilkoordinatorin und Fachbereichsleiterin für Gemeinwesenarbeit bei offensiv'91. Der Aufbau der Zufluchtswohnung war ihr erstes Projekt. Die Arbeit von damals zieht sich bis in die heutige Zeit, denn Schutz für Frauen ist weiterhin relevant. „Wir haben immer dafür gekämpft, weitere Schutzplätze anbieten zu können“, sagt Grit Rohde. Gerade ist ein Schutzhaus im Aufbau.
Ein anderes Arbeitsfeld entstand ebenfalls in der Wendezeit. „Aus vielen Anfragen ist der Bedarf nach einer Schuldnerberatung deutlich geworden“, erinnert sich Grit Rohde. Bereits 1992 begann die Arbeit in diesem Bereich. Aus dem Projekt ist die heutige Schuldner- und Insolvenzberatung gewachsen. „Wir haben ganz klein angefangen und wir waren auch viel in lokalen Netzwerken unterwegs“, so Grit Rohde. Zusammen mit anderen überlegte der Verein, was man tun könnte, um den Ortsteil Niederschöneweide mit dem vielen Leerstand wiederzubeleben.
Die Netzwerkarbeit und auch die Zusammenarbeit mit dem Paritätischen Berlin sind für die Stadtteilkoordinatorin ein wichtiger Punkt, der zum Gelingen der Vereinsarbeit beigetragen hat. „So konnten wir uns zum Beispiel auch mit Kollegen aus dem Westteil austauschen, die sich schon viel länger als wir mit dem Thema Gewalt gegen Frauen beschäftigt haben“, sagt Grit Rohde. Macht dieses oder jedes Projekt Sinn, wie sollte man es angehen? Wie werden Anträge gestellt? Woher bekommt der Träger ein gefordertes Empfehlungsschreiben? „Wir mussten ja viel lernen und die fachliche Unterstützung durch den Paritätischen war sehr wertvoll“, erinnert sich Grit Rohde.
„Die größte Herausforderung in der Wendezeit war die, als freier Träger zu überleben“, sagt Grit Rohde. Ein solides Unternehmen aufzubauen aus der Initiative der zehn Frauen, Arbeitgeberinnen zu werden, Durststrecken zu überwinden: Das waren die Aufgaben in den 1990er Jahren. Heute sieht sich offensiv'91 als solider Partner im Stadtbezirk. Der Verein, der in der Wendezeit gegründet wurde, ist freier Träger von vielen verschiedenen sozialen und kulturellen Diensten für Frauen, Familien, Kinder und Jugendliche. Es gibt neben der Schuldner- und Insolvenzberatung das Stadtteilzentrum „Villa offensiv“, Zufluchtswohnungen für Frauen, das Schutzhaus, mehrere Kitas und verschiedene Beratungsangebote.
Doch nicht nur die Angebote für den Stadtteil stehen heute im Fokus. „Anfangs war die Arbeitslosigkeit hoch und es war nicht so schwer, als Träger Mitarbeiter zu finden“, sagt Grit Rohde. Heute müsse man auch immer im Blick behalten, attraktiv zu bleiben für Menschen, die beim Verein arbeiten, um auch mit anderen Trägern mithalten zu können. Daher habe offensiv'91 auch viel Zeit investiert, sich ein Leitbild zu geben. Darin sind unter anderem der Grundgedanke der Hilfe zur Selbsthilfe festgehalten, aber auch der Schwerpunkt auf Gewaltprävention und politischer Bildungsarbeit und die Bedeutung der Vernetzung und der Wille zur Kooperation statt Konkurrenz mit anderen Trägern. Für die nächsten zehn bis fünfzehn Jahre sieht Grit Rohde trotz aller Herausforderungen weiter eine gute Perspektive für den freien Träger im Südosten Berlins.
übrigens
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Der Paritätische Wohlfahrtsverband Berlin und die Maueröffnung
Nach der Maueröffnung stellte der Paritätische Berlin fest, dass sein Wissen über die DDR nicht nur im sozialen Bereich äußerst beschränkt war. Es fehlten Kontakte zu Politik und Öffentlichkeit. Darum betraute der Verband bereits im Januar 1990 zwei Mitarbeiter damit, Verbindungen herzustellen, Informationen zu sammeln und Entwicklungen zu verfolgen.
1990 trat die Volkssolidarität als erste Ostberliner Mitgliedsorganisation dem Paritätischen Wohlfahrtsverband Berlin bei. Die Verbindungen zur Volkssolidarität entwickelten sich zu einer engen Zusammenarbeit mit beiderseitigem Nutzen und sollten helfen, "Bezugspunkte" im ostdeutschen Alltag zu erhalten. Dies war jedoch nur sehr eingeschränkt möglich, denn im Rahmen der Umbruchssituation waren in Ostberlin zahlreiche Versorgungsdefizite zu verzeichnen. Der Paritätische unterstützte daher vielfältige Gründungsinitiativen durch tatkräftige Hilfe und Beratung und verfolgte bewusst die Gründung originär ostdeutscher Träger.
aus: Hollweg, Franke, Witten: 65 Jahre Parität. Die Geschichte des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, Landesverband Berlin (2015)