•   Rubrik Reportage

Wo sie sich wie zu Hause fühlen

  • Autor Milena Müller
  • Veröffentlichungsdatum 25. April 2025
  • Lesezeit 10 Minuten

Winskiez in Prenzlauer Berg. Pastellfarbene Hausfassaden aus der Gründerzeit, rosa blühende Kirschbäume, bunte Wimpelketten. Hier, in einem ruhigen Hinterhaus in der Winsstraße, hat der lateinamerikanische Frauenverein Xochicuicatl seinen Sitz. Das wird Sotschikuikatel ausgesprochen und heißt auf Nahuatl, der Sprache einer präkolumbianischen Kultur Mexikos, „Gesang der Blumen“.

Es ist Sophia, die mir an diesem sonnigen, aprilfrischen Dienstagmorgen lächelnd die Tür öffnet. Während draußen noch alles ruhig ist und vor den Cafés erst allmählich die Tische aufgestellt werden, dringt aus einem der Räume hinter Sophia heiteres, waches Stimmengewirr. Das Frauenfrühstück ist schon in vollem Gange.

© Milena Müller

Die Räume von Xochicuicatl sind verwinkelt und gemütlich. Vor den Fenstern mit den roten Holzrahmen stehen Pflanzen, an den Wänden hängen Bilder und Fotos. Es gibt ein großes, helles Büro, zwei Beratungszimmer, eine kleine Bibliothek. Das Herz: die winzige Küche, die ein großes, buntes Wandbild schmückt. „Das ist unsere Sotschi“, sagt Sophia. Sotschi, so nennen die Frauen, die hierherkommen, den Verein.

Als ich in das größte der Zimmer eintrete, treffe ich acht Frauen, die sich gerade darüber unterhalten, wo das beste koreanische Essen in Berlin zu finden ist. Die Stimmung ist ausgelassen. Der Tisch, an dem die Frauen sitzen, liebevoll dekoriert: Tulpen in recycelten Glasflaschen, bunte Servietten, Kerzen. Es gibt Brötchen, Käse, Erdbeeren, Kekse – und selbstgemachten koreanischer Gurkensalat.

Die Frauen, die heute hier sind, um gemeinsam zu frühstücken, kommen aus Mexiko, aus Kolumbien, Venezuela, Chile, Guatemala, Argentinien und Spanien. Viele kennen sich bereits, andere sind zum ersten Mal da. So Sandra, die auf der Suche nach einem Deutschkurs in einer WhatsApp-Gruppe auf Xochicuicatl aufmerksam gemacht wurde. Um den Verein kennenzulernen, hat sich Sandra den Frühstückstermin schon vor drei Wochen in ihren Kalender eingetragen. „Muy alemán“, sagt sie und lacht. Sehr deutsch, heißt das.

© Milena Müller

Kaffee wird nachgeschenkt, die Butter weitergereicht. Leslye bringt selbstgebackene, mit Himbeeren verzierte Schokoladentörtchen aus der Küche. Ein anerkennendes Raunen geht durch den Raum. Leslye beantwortet sogleich Fragen zum Rezept. Ich unterhalte mich währenddessen mit Natalie, die neben mir sitzt. Sie hat eine ganz besondere Verbindung zu den Sotschis. Wegen der Liebe ist ihre Mutter vor über 30 Jahren aus El Salvador nach Berlin gekommen. Auf der Suche nach Austausch mit anderen lateinamerikanischen Frauen hat sie zu Xochicuicatl gefunden. Natalie ging hier als Kind ein und aus. „Hier zu sein hat sich schnell so angefühlt wie zu Hause zu sein“, sagt sie. Letztes Jahr dann hat sie als Praktikantin im Verein mitgearbeitet. Sie weiß jetzt, dass soziale Arbeit ihr Ding ist und dass sie mit Frauen arbeiten will.

Damals, als Natalies Mutter noch ganz neu war in Berlin, hat sich Xochicuicatl gegründet. 1992 war das. Um die zehn lateinamerikanischen Frauen hatten sich ursprünglich zusammengeschlossen, um in ihrer eigenen Sprache in Berlin über Literatur und Poesie zu reden. Als sie merkten, dass die Bedarfe und Themen, die sie gemein hatten, über das Literarische hinausgingen, haben sie das Konzept von Xochicuicatl entsprechend erweitert. Von nun an ging es darum, sich und andere Frauen aus Lateinamerika zu unterstützen und zu stärken – bis heute sind Empowerment und Aufklärung von und für Frauen zentrale Leitgedanken des Vereins.

Weil es kurz nach der Wende im Ostteil der Stadt viel Leerstand gab, hat der Verein, nachdem er sich zuvor in Räumen von Frauenkollektiven in Mitte getroffen hatte, sein Zuhause schließlich in Prenzlauer Berg angemietet. Im Vergleich zu Westberliner Bezirken wie Kreuzberg hatten Prenzlauer Berg und Pankow zu dieser Zeit so gut wie keine migrantisch selbstorganisierten Vereine und Initiativen. Xochicuicatl ist in Pankow, dem größten Bezirk in Berlin, die älteste migrantische Frauenorganisation dieser Art.

Mit den Jahren ist der Verein gewachsen. Heute teilen sich drei Mitarbeiterinnen eindreiviertel Stellen und stellen gemeinsam mit Ehrenamtlichen ein beachtliches, vom Senat gefördertes Angebot auf die Beine. Das sind Workshops, gemeinsame Aktivitäten wie das Frauenfrühstück und Deutschkurse. Das sind Vorträge zu kulturellen Fragestellungen, Lesungen und gemeinsame politische Aktionen, zum Beispiel in den Internationalen Wochen gegen Rassismus. Und das sind vor allem kostenlose Beratungen in Spanisch und Portugiesisch.

„Angefangen hat es mit der Sozialberatung, dann kamen juristische, berufliche und schließlich psychologische Beratungsangebote hinzu. Häusliche Gewalt ist zum Beispiel ein Thema, das von Anfang an eine Rolle gespielt hat“, erzählt mir Sophia. Sie berät selbst, vor allem Familien, und ist seit elf Jahren bei Xochicuicatl. Generell sei die Nachfrage nach Beratung groß. „Migration bedeutet nicht nur, eine neue Sprache lernen zu müssen. Wer in ein anderes Land zieht, muss mit vielem klar kommen: mit dem Wetter, mit Gerüchen, mit kulturellen Codes – in Berlin auch mit dem rauen Ton und dem schwierigen Wohnungsmarkt. Das kann überfordern“, so Sophia. „Dazu kommt, dass Migration immer auch Verlust bedeutet – Verlust der Familie, der Freunde, der Arbeit – der nicht alle, aber viele in eine Identitätskrise führt.“

© Milena Müller

An der Frühstückstafel kommen die Frauen jetzt darauf zu sprechen, wie sie zu Xochicuicatl gefunden haben, warum sie eigentlich hier sind. Es ist stiller geworden. Wenn eine Frau spricht, hören die anderen zu, nicken manchmal verständnisvoll.

„Der Neuanfang in einem fremden Land, weit weg von allem, was vertraut ist, ist nicht leicht“, sagt Leslye. Sie erklärt, dass vor allem die Anfangszeit auch große Unsicherheiten mit sich bringt: Werde ich Freund*innen finden, eine Wohnung, eine Arbeit? Werden sich all meine Erwartungen, die ich an ein Leben in einem anderen Land habe, erfüllen? „Hier habe ich einen Ort gefunden, an dem ich all das aussprechen kann, an dem ich praktische, aber auch mentale Unterstützung finde.“

Für einige aus der Runde war die Covid-19-Pandemie ausschlaggebend. Vor allem für die, die während oder kurz vor den Lockdowns nach Berlin gekommen sind. Als es endlich vorbei war, haben sie Xochicuicatl aufgesucht, um Kontakte zu knüpfen, vielleicht Freundschaften zu schließen.

Warum ein Frauenverein? Das fühle sich sicher und vertrauensvoll an, antworten die meisten. Unter Frauen sei es angenehmer und einfacher, offen über Themen wie Sexualität oder Mutterschaft zu sprechen. Und Manuela sagt: „Ich bin als einziges Mädchen unter vielen Brüdern aufgewachsen. Ich war wie sie und konnte lange nichts mit Mädchen und Frauen anfangen.“ Sie schmunzelt. „Ich war davon überzeugt, dass sie zickig sind und nerven.“ Das habe sich inzwischen geändert. Sie habe das Frau-Sein gelernt, so sagt sie. Heute arbeitet Manuela bei den Sotschis. Mit Frauen, unter Frauen. Im Mai bietet sie einen Self-Make-up-Workshop an.

Hierher zu kommen, hat sich so angefühlt, als hätte ich ein noch fehlendes Puzzleteil gefunden.

Eine andere Frau stellt ihre Kaffeetasse ab. Auch sie teilt ihre Geschichte. „Ich bin in Berlin geboren und aufgewachsen. Mit einem deutschen Vater und einer lateinamerikanischen Mutter. Bikulturell groß zu werden, ist eine wertvolle Erfahrung, stellt mich aber auch immer wieder vor die Frage: Wer bin ich eigentlich?“ Sie hält kurz inne. „Ich habe mich nach einem Ort gesehnt, an dem ich den lateinamerikanischen Teil meiner Identität besser kennenlernen kann. Hierher zu kommen, hat sich so angefühlt, als hätte ich ein noch fehlendes Puzzleteil gefunden.“

So verschieden die persönlichen Geschichten der Frauen, die heute am Frühstückstisch sitzen, auch sind. Sie alle haben etwas gesucht und bei Xochicuicatl gefunden: einen Ort, der ihnen Kraft gibt, an dem sie sich verstanden und wohl fühlen – einen Ort, an dem sie sich wie zu Hause fühlen.

Inzwischen ist es schon weit nach Mittag. Draußen dürfte in den Cafés längst Hochbetrieb herrschen, drinnen macht sich Aufbruchstimmung breit. In der kleinen Küche machen sich jetzt alle Frauen daran, das restliche Essen im Kühlschrank zu verstauen, Geschirr abzuwaschen, Schränke auf- und zuzumachen. Zum Abschied Umarmungen. Als ich die Tür hinter mir zuziehe, höre ich fröhliches Stimmengewirr und Lachen.

übrigens

  • Migrant*innenselbstorganisationen wie Xochicuicatl spielen in den migrantischen Gemeinschaften in Berlin seit jeher eine wichtige Rolle. Das spiegelt sich auch in der Mitgliederlandschaft des Paritätischen Berlin wider: Ungefähr die Hälfte aller Organisationen im Bereich Migration sind selbstorganisiert. Viele migrantische Selbstorganisationen sind in West-Berlin in den 1970er Jahren entstanden, in Ost-Berlin insbesondere nach der Wende. Die einen als Reaktion auf rassistisch motivierte Gewalt, die anderen um Menschen, die aus anderen Ländern nach Berlin kommen, das Ankommen zu erleichtern.

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