•   Rubrik Interview

Selbsthilfe macht stark

  • Autor Birgit Raddatz
  • Veröffentlichungsdatum 25. April 2025
  • Lesezeit 11 Minuten

Ob bei Sucht, Aids oder Post-Corona: Wenn Menschen Selbstwirksamkeit spüren, sind sie resistenter, sagt Ellis Huber, langjähriges Vorstandsmitglied beim Paritätischen Landesverband Berlin. Im Interview spricht er über die solidarischen Strukturen der Selbsthilfe.

 

Herr Huber, was haben Sie als Arzt durch Selbsthilfegruppen gelernt?

Ich habe erfahren, was eine Krankheit aussagen kann und wie die Empfindungswelten der Patienten und Patientinnen selbst sind. Viele Menschen spüren, was los ist. Frauen mit Brustkrebs zum Beispiel schilderten mir, dass sie irgendwie so eine Ahnung gehabt haben, so ein Gefühl. Sie spürten, da hatte sich etwas verändert, manchmal wollten sie es aber nicht so genau wissen. Aber dafür plädiere ich: Nehmt eure Empfindungen wahr! Mit diesen Empfindungen sollten wir in der Medizin achtsam und respektvoll umgehen und wir sollten sie für den Erkenntnisgewinn nutzen. Das habe ich bei den Selbsthilfegruppen immer wieder erlebt: Nach drei, vier Sitzungen spielt nicht mehr die Krankheit die zentrale Rolle, sondern die Frage, wie das Leben trotz eines körperlichen, seelischen oder sozialen Handicaps gestaltet wird. Das ist ein Impuls der Selbstwirksamkeit. Und darum geht es heute mehr als je zuvor. Bei der HIV/Aids-Pandemie lernten wir den Unterschied zwischen Selbstsorge und Staatsaufsicht. Es gab politische Fantasien und Bilder, dass man alle, die infiziert sind, auf Inseln verbannen solle. Wir als Bewegung aber haben stattdessen die Aids-Hilfe begründet. Damit setzten wir auf die Selbstorganisation der betroffenen Menschen – und nicht auf eine medizinische Versorgung mit einem entmündigenden Narrativ. 

Inwieweit werden Krankheiten wie HIV/Aids oder Sucht auch heute noch stigmatisiert?

Die Stigmatisierung von Menschen gehört zu gesellschaftlichen Kulturen leider dazu. Es ist ein Ergebnis wachsender und entwickelter Kultur, dass die Stigmatisierung zurückgedrängt und möglichst vermieden wird. Es bricht aber immer wieder mal durch, weil die vorherrschende Empfindung in unseren Bevölkerungen Angst ist. Angst zum Beispiel, dass wir die natürlichen Lebensgrundlagen vollends zerstören und die Mitmenschlichkeit ebenso. Diese Angst sucht sich als kollektive Energie eine Projektionsfläche zur Abwehr. Und so produzieren wir Feindbilder, die unsere Ängste bannen sollen. Ich habe stigmatisierte Gruppen immer als Zeichen gesellschaftlicher Widersprüche gesehen und bin mit den Betroffenen in den Dialog gegangen. Damals gab es eine Stigmatisierung der schwulen und lesbischen Communitys und auch der Suchtkranken. Heute wissen wir, dass die vermeintliche Gruppe der HIV/Aids-Bedrohten wirksame Leistungsträger für die gesellschaftliche Bewältigung der Probleme sind. Es war ein heftiger Kampf damals. Einem Chefarzt im Klinikum Steglitz, der heimliche Aids-Teste anordnete, musste ich verdeutlichen, dass er seine persönliche Angstneurose nicht über seine Krankenhausabteilung ausbreiten dürfe.

Selbsthilfegruppen haben bewiesen, was Suchtkranke aus eigener Kraft erreichen können.

Ellis HuberFoto: Boaz Arad

Bei Süchten gilt ähnliches. Die Aufspaltung in erlaubte und nicht erlaubte Drogen ist ein massenpsychologisches Phänomen. Man stempelt eine Bevölkerungsgruppe als Kriminelle ab.  Dabei haben wir viel mehr Todesfälle jedes Jahr durch Alkohol als durch Heroinmissbrauch. Es ist völlig verrückt, dass man die Süchte der Gesellschaft verdrängt, indem man einzelne gesellschaftliche Mitglieder als Süchtige ausgrenzt. Das beschreibt eine gesellschaftliche Krankheit. Selbsthilfegruppen haben bewiesen, was Suchtkranke aus eigener Kraft erreichen können. Wir brauchen zur Bewältigung von Suchtkrankheiten eine großzügige Offenheit gegenüber den Menschen und dem Menschlichen.

Glauben Menschen denn noch an die Kraft der Gemeinschaft in Selbsthilfegruppen?

Selbsthilfegruppen waren und sind ein Appell, vielmehr ein Aufschrei der Menschen mit Krankheitsproblemen, gegen eine bevormundende Medizin, die sie zum Objekt macht. Die Menschen lernen, für sich ein produktives und ein gutes gemeinsames Leben zu führen. Ich selbst hatte mal eine Freundin, die alkoholkrank war – und bin dann in eine Gruppen für Angehörige von Alkoholikerinnen und Alkoholikern gegangen. Das hat mir sehr geholfen. Als ich selbst an einer chronischen Krankheit litt, verstand ich schnell: Das ist psychodynamisch. Mir war von vornherein klar schon im Medizinstudium, dass wir eine biopsychosoziale Medizin brauchen, also eine Kultur, die den Menschen in seinen Lebenswelten erreicht, die sieht, wie der Mensch biografisch geworden ist und die ihn in seinen inneren Emotionalitäten respektiert und akzeptiert. Heute ist es fatal, weil wir eine dogmatische Ideologie verbreiten, dass die Krankheit im Körper sitzt. Das ist falsch. Die Krankheit ist Ergebnis von menschlichen Situationen, in denen Körper, Seele und Geist zusammenwirken. Selbsthilfe ist ungemein heilsam für Patient*innen mit Ängsten, mit Depressionen oder mit chronischen Krankheiten. In den Gruppen erfahren sie, dass sie nicht allein sind. Ich habe zwar Schwierigkeiten, von Heilung zu reden, weil man vieles nicht heilen kann. Aber jeder von uns hat seine Gebrechen, und man ist immer ein stückweit krank und ein stückweit gesund. Und bei der gleichen Krankheit sind die, die auf die Krankheit starren, schlechter dran als die, die auf die Gesundheit gucken.

Selbsthilfe-Strukturen haben sich als erstes im Bereich der Suchttherapie ausgebildet. Wie war der Paritätische Wohlfahrtsverband dort eingebunden?

Ich bin mit dem Paritätischen Wohlfahrtsverband groß geworden. Der Paritätische realisiert für mich die wirksamste Kultur einer Gesellschaft, die frei und menschlich agiert und der Selbstorganisation mit sinnvollen Aufgaben mehr Bedeutung zumisst als dem schnöden Mammon und der individuellen Profitgier. Natürlich gibt es da auch ab und zu mal Widersprüche, und manche Ressourcen könnten auch besser verwendet werden. Aber der Paritätische Wohlfahrtsverband ist von seiner Entstehungsgeschichte die gesellschaftliche Kraft, die den europäischen Humanismus zum Maßstab macht. Nicht die Religion oder eine Partei sind handlungsleitend, sondern Toleranz, Offenheit und Vielfalt. Wir haben gelernt mit unterschiedlichsten Positionen umzugehen und können auch ertragen, dass es im Suchtbereich oder im Pflegebereich eine diametral entgegengesetzte Handlungswelten gibt. Wir erleben gegenwärtig eine Gesellschaft, die das nicht mehr kann, gegensätzliche Positionen auszuhalten. Man reduziert die ganze Welt auf dogmatisch verengte Gruppenkämpfe und ist nicht mehr bereit, eine andere Meinung zu ertragen.

Ich habe den Paritätischen immer als eine Schule der Gesellschaft verstanden, als ein kulturelles Gewebe, ein Netzwerk, indem die Zivilgesellschaft ihre Bedeutung und ihre Kraft entfaltet. Ich bin überzeugt, dass wir die gesellschaftliche Krise zwischen Staat, Markt, Wirtschaft und Zivilgesellschaft nur bewältigen, indem wir die Zivilgesellschaft stark machen und den Staat in weiten Bereichen überflüssig. Dafür braucht es aber auch verschiedene Handlungskulturen. Das, was wir immer anstreben müssen, ist individuelle Freiheit in sozialer Verantwortung und ein Ausgleich zwischen Eigennutz und Mitmenschlichkeit.

Selbsthilfe ist auch eine Möglichkeit für Long-Covid-Erkrankte. Was wünschen Sie sich von einer Aufarbeitung der Corona-Pandemie?

Corona hat ähnlich wie HIV/Aids in vielen Bevölkerungsgruppen auch neue Offenheit gebracht. Es haben sich neue Kooperationskulturen zwischen Krankenhäusern, Gesundheitsämtern und niedergelassenen Ärztinnen herausgebildet. Es gab eben auch Menschen, die sich den verordneten Regelungen widersetzt haben. Manche Pflegeheime etwa haben Strafen gezahlt, weil sie keine Masken verteilten und eigenständig die Infektionsrisiken bewältigt haben. Sie kontrollierten erfolgreich die Übergänge zwischen draußen und drinnen und verzichteten auf verunsichernde Zwänge.

In Frankreich gab es beispielsweise ein Pflegeheim, da hat sich das Pflegepersonal einfach halbiert, die eine Hälfte ist vier Wochen im Heim geblieben – und dann kam die andere Hälfte. Dazwischen hat man mit Infektionstests die Selbstkontrolle umgesetzt. Das ist keine absolute Sicherheit, aber eine weitestgehende Minimierung der Risiken.

Überall dort, wo man auf Selbstorganisation und Kompetenzvermittlung gesetzt hat, ist man besser durch die Pandemie gekommen. Das würde ich unter Aufarbeitung verstehen, dass wir neue Kulturtechniken gemeinsam entwickeln. Nicht mit Schuldzuweisungen arbeiten, sondern versuchen, gemeinsam bessere Lösungen zu finden.

  • Ellis Huber um 1987 an seinem Schreibtisch in der Ärztekammer und ... © Archiv Paritätischer Wohlfahrtsverband Berlin
  • ... und 35 Jahre später beim Jahresempfang des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes Berlin. © Holger Groß
zur Person

Ellis Huber ist Arzt und gründete Ende der 1970er Jahre mit anderen zusammen den ersten Gesundheitsladen in Berlin. Später war Huber Gesundheitsstadtrat von Wilmersdorf und Kreuzberg. Beim Paritätischen Berliner Landesverband leitete er von 1986 bis 1992 mit anderen zusammen die Abteilung Gesundheitliche und Soziale Dienste. Danach blieb er 30 Jahre lang als Vorstandsmitglied für den Paritätischen Wohlfahrtsverband Berlin aktiv. Von 1987 bis 1999 war Huber Präsident der Ärztekammer Berlin.

übrigens

  • Die Selbsthilfe bringt Bewegung in den Paritätischen Wohlfahrtsverband Berlin

Zwischen 1975 und 1990 hat sich die Zahl der Mitgliedsorganisationen im Paritätischen Wohlfahrtsverband verdreifacht – bedingt durch den Zustrom kleiner Träger aus dem neu entstandenen alternativen Selbsthilfebereich. Aufgrund seiner besonderen Struktur als Dachverband selbstständiger Vereine und der weltanschaulichen Ungebundenheit war der Paritätische für viele Gruppen und Projekte aus dem alternativen Spektrum der bevorzugte Spitzenverband. Die Öffnung des Verbandes für diese vielen Initiativen aus den neuen sozialen Bewegungen und dem Selbsthilfebereich war verbunden mit der Erschließung neuer Fachgebiete und der Ausweitung und der Schwerpunktverlagerung innerhalb schon bestehender Arbeitsbereiche.

aus: Hollweg, Franke, Witten: 65 Jahre Parität. Die Geschichte des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, Landesverband Berlin (2015)