•   Rubrik Bericht

Sehnsuchtsort Berlin?

  • Autor Milena Müller
  • Veröffentlichungsdatum 25. April 2025
  • Lesezeit 11 Minuten

Berlin ist Sonnenuntergang auf dem Tempelhofer Feld, Tage und Nächte durchtanzen, Streetart. Berlin ist auch: Wohnungssuche, frustrierend und zeitintensiv. Mieterhöhungen und Nebenkostenabrechnungen. Eigenbedarfsmeldungen. Alle wissen, der Berliner Wohnungsmarkt ist problematisch. Unterhaltungen darüber, wie schwierig es ist, in Berlin eine Wohnung zu finden und zu halten, finden ständig und überall statt. Worüber dabei jedoch wohl die wenigsten sprechen: Dass es in dieser Stadt Menschen gibt, deren Chance eine Wohnung zu finden gegen Null geht – Menschen, die wohnungs- oder gar obdachlos sind. Berlin ist nämlich auch: Verdrängung, Zwangsräumungen und Wohnungslosigkeit.

Wie viele Menschen in Berlin obdachlos sind, also auf der Straße leben, ist nicht bekannt. Einer aktuellen Hochrechnung zufolge sind es ungefähr 8.500, die Dunkelziffer dürfte hoch sein. Nach Angabe des Statistischen Bundesamtes beläuft sich die Zahl derer, die keine Wohnung haben, aber vorübergehend irgendwo unterkommen – zum Beispiel bei Bekannten oder in Notunterkünften – in Berlin auf mehr als 47.000.

Die Geschichten und Schicksale hinter diesen Zahlen kennen die, die mit wohnungs- und obdachlosen Menschen reden, sie unterstützen und mit dem Nötigsten versorgen. Zum Beispiel die Mitarbeiter*innen und Ehrenamtlichen von GANGWAY und der Berliner Obdachlosenhilfe, kurz BOH.

Juri Schaffranek in seinem Büro © Milena Müller

Juri Schaffranek kam vor 23 Jahren zu GANGWAY. Dort arbeitete er zunächst mit Jugendlichen, später auch mit Erwachsenen. Heute hat er die Fachsteuerung der Straßensozialarbeit mit wohnungs- und obdachlosen Erwachsenen inne. Er erarbeitet zum Beispiel Konzepte, redet mit Politik und Verwaltung – GANGWAY versteht sich auch als Sprachrohr für wohnungs- und obdachlose Menschen – oder wird als Experte in Sitzungen des Abgeordnetenhauses eingeladen. Es ist aber nicht so, dass Juri nur noch am Schreibtisch oder am Plenartisch sitzt. Um sich selbst einen Eindruck zu machen und um zu sehen was sich verändert, ist er immer noch regelmäßig mit den Streetworker*innen auf Berlins Straßen unterwegs.

Was er da erlebt? „Verelendung“, sagt Juri. „Wir reden mit Menschen, die suchtkrank sind oder pflegebedürftig, die eigentlich einen Arzt sehen müssten, die sich vor dem Altwerden fürchten, die Diskriminierung und körperliche Gewalt erfahren. Menschen, die nicht wissen, an wen sie sich mit all diesen Problemen wenden können.“ Manche von ihnen sind bereits obdachlos aus anderen Ländern nach Berlin gekommen, manche erst seit kurzem ohne Wohnung, andere schon lange. Nahezu alle leben gegen ihren Willen auf der Straße. „Die Anzahl derer, die freiwillig obdachlos sind, ist verschwindend gering. Nur weil jemand vermeintliche Hilfe wie einen Notübernachtungsplatz nicht annimmt, heißt das nicht, dass er oder sie freiwillig obdachlos ist“, sagt Juri.

In Berlin gibt es je nach Jahreszeit zwischen 458 und 1.200 Notübernachtungsplätze. Die sind, wie der Name schon sagt, für akute Notsituationen vorgesehen: kurzfristige und vorübergehende Hilfe statt langfristiger Lösung. Ganz anders ist das im Bahnhof E.I.N.S., dem Wohnprojekt der Berliner Obdachlosenhilfe (BOH). E.I.N.S. steht für Einzug in nachhaltige Selbstbestimmung. Hier bekommen Menschen, die von Obdachlosigkeit betroffen oder bedroht sind, in einer würdevollen, geschützten Umgebung die Chance, neu anzufangen.

Bahnhof E.I.N.S., das ist eine 215 Quadratmeter große Wohngemeinschaft, die Platz für vier Personen bietet – Personen, denen eine Zwangsräumung bevorsteht, die in Notunterkünften leben müssen oder auf der Straße. Wer einzieht, unterschreibt einen eigenen Mietvertrag für zwei Jahre und bezieht in der WG eine kleine Wohnung mit Bad. Es gibt einen Gemeinschaftsraum mit Küche, großem Tisch und Sofa. Der Mietpreis im Bahnhof E.I.N.S. ist niedrig und gedeckelt. Wer noch keine Sozialhilfeleistung erhält, um die Miete zu decken, für die oder den gibt es im Bahnhof E.I.N.S. die Möglichkeit, eine „Soli-Wohnung“ zu beziehen, deren Miete erst einmal die BOH übernimmt.

Von der Idee bis zum Einzug der Mieter*innen hat es ein paar Jahre gedauert. Als Immobilie – eine leerstehende Bankfiliale in einem Wohnhaus in Köpenick – und Kooperationspartnerin gefunden waren, musste das Bauamt das Vorhaben genehmigen. „Gewerbefläche in Wohnraum umzuwandeln, ist die eine Sache“, sagt Anni Schulz, Architektin und seit 2023 Koordinatorin des Wohnprojekts. „Die größere Herausforderung war, dass viele Sachbearbeiter*innen erst von unserem Nutzungskonzept überzeugt werden mussten.“ Als die bürokratischen Hürden überwunden waren, startete der Umbau. Auch der verzögerte sich: Mal ging ein Teil kaputt, mal gab es Lieferschwierigkeiten. All das sei normal und bei einem gewöhnlichen Bauprojekt in der Regel nicht so schlimm, erzählt Anni. „Wenn es aber Menschen in prekären und existenziellen Notsituationen sind, die auf ein Einzugsdatum warten, ist da ein ganz anderer Druck dahinter.“ Als der Umbau in die zweite Phase ging, versucht Anni Ehrenamtliche der BOH für das Projekt zu gewinnen. Mit Erfolg: Viele, die bis dahin vor allem Schlafsäcke verteilt, Brote geschmiert oder Kaffee ausgeschenkt hatten, fuhren für viele Wochen regelmäßig nach Köpenick, um Boden zu verlegen, Tapeten an die Wände zu bringen und Möbel aufzubauen. Im Januar dieses Jahres war es dann so weit: Vier Menschen bezogen ihre Wohnungen im Bahnhof E.I.N.S. „Zu erleben, wie die Räume, die ich zuerst nur auf dem Papier und dann lange im Rohbau gesehen habe, endlich mit Leben gefüllt und von ihren neuen Bewohner*innen ganz individuell eingerichtet werden – das war ein ganz besonderer Moment“, erinnert sich Anni.

  • Die erste Skizze vom Bahnhof E.I.N.S. © Berliner Obdachlosenhilfe e.V.
  • Ehrenamtliche Helfer*innen der Berliner Obdachlosenhilfe im Bahnhof E.I.N.S. © Berliner Obdachlosenhilfe e.V.
  • Anni im Bahnhof E.I.N.S. © Berliner Obdachlosenhilfe e.V.
  • Eine der Wohnungen im Bahnhof E.I.N.S. © Berliner Obdachlosenhilfe e.V.
  • Der Gemeinschaftsbereich im Bahnhof E.I.N.S. © Berliner Obdachlosenhilfe e.V.
  • Im Januar 2025 ziehen die ersten Mieter*innen in den Bahnhof E.I.N.S. ein © Berliner Obdachlosenhilfe e.V.

Während der zwei Jahre im Bahnhof E.I.N.S. werden die Mieter*innen von den beiden Sozialarbeiter*innen der BOH begleitet und schließlich in permanenten Wohnraum vermittelt. „Die, die in den Bahnhof E.I.N.S. einziehen, atmen erst einmal auf. Sie haben ein Zuhause gefunden und so den Kopf frei, sich gemeinsam mit unseren Sozialarbeiter*innen um das zu kümmern, was bis dahin auf der Strecke geblieben war – zum Beispiel um Therapie, Ärztinnentermine oder Schulden“, sagt Anni.

Auch die Streetworker*innen von GANGWAY helfen dabei, Probleme wie diese anzugehen. Sie wissen, wo Menschen, die auf der Straße leben, schnell und einfach die Hilfe bekommen, die sie brauchen. Sie informieren sie darüber und begleiten sie auch manchmal – zur Ärztin, zum Anwalt oder zur Schuldner*innenberatung. Bis es so weit ist, reden sie aber erst einmal viel mit ihren Adressat*innen, bauen Vertrauen auf. Die Drop Out-Teams von GANGWAY sind in ihren jeweiligen Bezirken unterwegs, machen Rundgänge, beobachten. Sie sind eine der ersten in der Stadt, die wissen, wo sich obdachlose Menschen vermehrt aufhalten: Schlesischer Busch, Treptower Park, Warschauer Straße.

© Gangway e.V.

„Damals, bis in die frühen Nullerjahre war die klassische Obdachlosenszene am und rund um den Bahnhof Zoo anzutreffen“, erinnert sich Juri. Das sei heute anders. Überhaupt habe sich viel verändert in all der Zeit, in der Juri mit wohnungs- und obdachlosen Menschen arbeitet. Vor allem sei die Zahl derer, die von Obdachlosigkeit betroffen sind, enorm angestiegen. Juri beobachtet auch, dass der Umgang mit Obdachlosen grober und restriktiver geworden ist. Wenn etwa die sogenannte Reinigungsstreife der Berliner Verkehrsbetriebe Obdachlose aus U-Bahnhöfen verdrängt. „Dabei ist doch klar, dass so keine Probleme gelöst werden und sich die Menschen nicht in Luft auflösen“, so Juri. Er erzählt auch, dass immer mehr Menschen, die auf der Straße leben, unter schweren Sucht- und psychischen Erkrankungen leiden.

Auch Anni und Stefan Schützler, Sozialarbeiter bei der Berliner Obdachlosenhilfe, beobachten das. „Das Leben auf der Straße ist in den letzten Jahren schwerer und der Verteilungskampf härter geworden“, sagt Stefan. „Exzessiver Drogenkonsum, psychische Erkrankungen, Gewalt – all das hat sich so schnell verschärft, dass das Hilfesystem gar nicht hinterherkommt.“

Warum die Zahl wohnungs- und obdachloser Menschen in Berlin in den letzten Jahrzehnten und Jahren so rasant gestiegen ist und immer weiter steigt? Die Antwort sei einfach, sagt Stefan. „Es gibt kaum noch bezahlbare Wohnungen in Berlin. Erst recht nicht für sozial benachteiligte, arme Menschen.“ Juri glaubt, der großangelegte Verkauf landeseigener Wohnungen an private Investoren Ende der 1990er, Anfang der 2000er Jahre sei ein Wendepunkt gewesen: „Die Auswirkungen davon sind heute noch zu spüren: In Berlin ist Wohnraum vielerorts Spekulationsgegenstand. Wohnkonzerne, denen es ausschließlich um Profitmaximierung geht, verdrängen viele, die sich horrende Mieten nicht mehr leisten können, aus ihren Wohnungen und aus ihren Kiezen.“

Aus der Sicht von Juri, Anni und Stefan muss in Berlin an vielen politischen Stellschrauben gedreht werden. An erster Stelle steht: Berlin braucht mehr Wohnraum für sozial benachteiligte Menschen – mit bezahlbaren Mieten. „Es braucht aber auch mehr Kooperation zwischen Vereinen wie der BOH und Wohnungseigentümer*innen – in deren Wohnungen obdachlose Menschen dann schnell und einfach vermittelt werden können“, sagt Anni. Und Juri findet, dass sich das Hilfesystem stärker daran orientieren muss, was obdachlose Menschen wirklich brauchen: „Ein Arzttermin in vier Wochen? Für die meisten, die auf der Straße leben, absolut sinnlos.“ Es müsse außerdem mehr Anlaufstellen für obdachlose Menschen mit Suchterkrankung geben.

Was es im Sehnsuchtsort Berlin ganz sicher auch braucht: Vereine wie GANGWAY und die Berliner Obdachlosenhilfe. Menschen, die nicht wegsehen, sondern auf die, die von Wohnungs- und Obdachlosigkeit betroffen sind, zugehen und sie fragen, was sie brauchen. Menschen, die anderen mit Orten wie dem Bahnhof E.I.N.S. ein Aufatmen und einen Neuanfang ermöglichen.