Schule ist mehr als rechnen, schreiben und lesen
tandemBTL ist einer der größten und ersten Träger im Bereich der Jugendhilfe an Schulen in Berlin. Rund 200 Mitarbeiter*innen unterstützen Kinder und Jugendliche an über 80 Schulen in ganz Berlin. Wie es dazu gekommen ist, warum gute Schulsozialarbeit so wichtig ist und wo sie an ihre Grenzen kommt, erzählt der Bereichsleiter der Schulbezogenen Sozialarbeit Sascha Mase im Interview.

Die Unterstützung von Kindern und Jugendlichen ist entscheidend für ihre Entwicklung und späteren Erfolg im Leben. Sie sind das wertvollste Gut unserer Gesellschaft. Es ist unsere Aufgabe, ihnen zu helfen, ihren Platz in der Gesellschaft zu finden und daran teilzuhaben.
tandemBTL ist seit vielen Jahren in der Jugendhilfe aktiv. Wie kam es dazu, dass ihr euch irgendwann verstärkt auf die Arbeit an Schulen fokussiert habt?
tandemBTL ist in den 90er Jahren gegründet worden – damals als Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaft mit dem Ziel, jungen arbeitslosen Fachkräften neue Perspektiven und Betätigungsfelder zu eröffnen. Nach der Wiedervereinigung waren in Berlin erstmal viele Menschen arbeitslos und diese sollten wieder neue Arbeitsfelder finden. Das waren arbeitslose Erzieher*innen oder Sozialarbeiter*innen, das gab es damals noch, heute kaum vorstellbar im Fachkräftemangel, welche dann über sogenannte Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in solche finanzierten Projekte gekommen sind. So entstanden schließlich die ersten Schulstationen, die heute als eine Art Vorläufer*innen der Schulsozialarbeit in Berlin gelten: Erzieher*innen und Sozialarbeiter*innen haben Schüler*innen unterstützt, die im Unterricht Schwierigkeiten oder mit anderen Herausforderungen zu kämpfen hatten.
2006 wurde das Programm „Jugendsozialarbeit an Berliner Schulen“ von der Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie initiiert und freie Träger gesucht, die nach dem Unterricht am Vormittag sozialpädagogische Angebote machen können. Wir hatten das entsprechende Know-How. Deshalb wurden wir für das Landesprogramm zur Kooperation von Schulen und Jugendhilfeträgern angefragt und sind 2007 miteingestiegen.
Was machen Schulsozialarbeiter*innen? Welche Angebote bringen sie in den Schulalltag ein?
Unsere Schulsozialarbeiter*innen sind Expert*innen der Jugendhilfe am Standort Schule. Der genaue Bedarf hängt immer davon ab, welche Bedarfe es an der jeweiligen Schule gibt – was Schüler*innen, Eltern und pädagogische Mitarbeitende brauchen. An manchen Schulen holen wir Schüler*innen aus den Klassen und unterstützen sie ganz gezielt und individuell, zum Beispiel durch Einzelförderung oder beraten auch Eltern An anderen Schulen organisieren wir Trainings, um soziale Fähigkeiten zu stärken, oder machen erlebnispädagogische Angebote für die gesamte Schulgemeinschaft: von sportlichen Aktivitäten bis zur Gestaltung eines Schulgartens. Das Schöne ist: Schulsozialarbeiter*innen sind nicht an starre Lehrpläne gebunden. Sie haben die Freiheit, gemeinsam mit Schüler*innen Neues zu entwickeln und auszuprobieren.
Neben der Arbeit mit Schüler*innen begleiten wir auch Schulhilfekonferenzen und führen Gespräche mit Eltern, die Rat suchen.
Mit welchen Problemen oder Anliegen kommen Schüler*innen zu euch?
In den letzten Jahren sind vor allem Themen wie Cyber-Mobbing immer mehr in den Vordergrund gerückt. Das ist ein Bereich, der früher nicht so präsent war, aber mittlerweile ein echtes Problem darstellt. Konflikte entstehen oft in WhatsApp-Gruppen oder auf anderen Plattformen außerhalb der Schule, werden aber dann in der Schule ausgetragen.
Was auch immer wichtiger wird: die Unterstützung von queeren Schüler*innen. Viele kommen zu uns, weil sie mit ihrer sexuellen Identität kämpfen und sich unsicher fühlen. Bei uns finden sie einen sicheren Raum, um darüber zu sprechen und Fragen zu stellen.
Es gibt aber auch positive Entwicklungen: Immer häufiger bitten Schüler*innen uns, ihre Ideen dazu zu unterstützen, wie sie den Schulalltag demokratisch mitgestalten können.
Gibt es eine besondere Erfolgsgeschichte, die Sie gern erzählen?
Ein besonders erfolgreiches Beispiel für gute Schulsozialarbeit sind die sonderpädagogischen Kleinklassen an integrierten Sekundarschulen, wie etwa die „Coole Schule“ in Marzahn-Hellersdorf. Hier werden Schüler*innen, die in regulären Klassen nicht zurechtkommen, in Gruppen von bis zu sechs Personen unterrichtet und dabei intensiv von Sozialarbeiter*innen, Lehrkräften und therapeutischen Fachkräften begleitet. Es gibt Fälle, in denen Jugendliche mit extrem hohen Fehlzeiten durch dieses Modell wieder in den Schulalltag integriert wurden, ihren Abschluss geschafft und sogar eine Ausbildung begonnen haben.
Was hat sich für Schulsozialarbeiter*innen über die Jahre verändert?
Die Kooperation mit Schulen hat sich über die Jahre weiterentwickelt, besonders durch die Einführung von Schulsozialarbeit, die anfangs als neue Profession auf Widerstand stieß.
Bringt der Schulalltag auch Herausforderungen für Schulsozialarbeiter*innen mit sich?
Ja, damals andere als heute. Als die Schulsozialarbeit eingeführt wurde, stieß sie hier und da noch auf Widerstand. Es dauerte eine Weile, bis sich Sozialarbeiter*innen an den Schulen etablierten und Anerkennung erlangten. Heute ist problematisch, dass die Schule immer noch in einem traditionellen, stark strukturierten System funktioniert, das den individuellen Bedürfnissen von Schüler*innen nicht immer gerecht wird. Soziale Lerninhalte kommen in den Lehrplänen noch zu wenig vor. Und der Unterrichtsalltag der Lehrkräfte bietet wenig Raum für den eigentlich wichtigen Austausch zwischen Lehrkräften und Schulsozialarbeiter*innen.
Welche politischen oder strukturellen Veränderungen wären nötig, um eure Arbeit langfristig zu sichern und zu verbessern?
Wir müssen uns darauf verlassen können, dass Schulsozialarbeit ausreichend finanziert wird! Leider werden in Zeiten von Kürzungen und Sparhaushalten Zuwendungs-Angebote als erste in Frage gestellt. Das führt einerseits zu einer großen Unsicherheit und andererseits ganz konkret dazu, dass Mitarbeiter*innen entlassen werden müssen. An vielen Schulen gibt es jetzt zum Beispiel keine Konfliktlotsenausbildung mehr. Das war ein wichtiges präventives Programm, in dem Schüler*innen gelernt haben, Konflikte gewaltfrei zu lösen.
Abgesehen davon reicht das Geld, das wir vom Senat bekommen, gar nicht aus, um unsere Regie- und Overheadkosten zu decken. Wir investieren zum Beispiel viel um Konzepte innovativ weiterzuentwickeln, um auf die sich ständig verändernden Bedarfe an Schulen zu reagieren. Die Kosten dafür sind nicht wirklich gedeckt.
Was motiviert Sie trotz aller Herausforderungen, diese Arbeit weiterzumachen?
Die Überzeugung, dass Schulsozialarbeit wichtig ist! Die Unterstützung von Kindern und Jugendlichen ist entscheidend für ihre Entwicklung und späteren Erfolg im Leben. Sie sind das wertvollste Gut unserer Gesellschaft. Es ist unsere Aufgabe, ihnen zu helfen, ihren Platz in der Gesellschaft zu finden und daran teilzuhaben.
übrigens
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Wie Berlin im Vergleich zu anderen Bundesländern dasteht
Im Vergleich zu anderen Bundesländern ist Berlin in der Schulsozialarbeit sehr fortschrittlich. Ein großer Unterschied zu vielen anderen Regionen, insbesondere den Flächenländern wie Brandenburg oder Sachsen, besteht darin, dass unsere Sozialarbeiter*innen in Berlin in der Regel dauerhaft an einem einzigen Standort, also einer Schule, tätig sind. Das bedeutet, dass sie kontinuierlich vor Ort sind und jederzeit als Ansprechpartner*in zur Verfügung stehen. In anderen Bundesländern hingegen betreuen Schulsozialarbeiter*innen oft mehrere Schulen und sind nicht ständig an einem bestimmten Standort präsent. Das führt dazu, dass sie bei Konflikten, die spontan auftreten, nicht immer sofort eingreifen können.
Berlin hat in der Schulsozialarbeit schon früh begonnen, in den frühen 2000er Jahren wurde diese Form der Unterstützung eingeführt, zunächst hauptsächlich an Hauptschulen. In den folgenden Jahren wurde das Angebot erweitert, und mittlerweile wird angestrebt, alle Schulen in Berlin mit Sozialarbeit zu versorgen. Dies wurde sogar durch eine Änderung des Schulgesetzes 2021 als Pflichtangebot festgelegt, was auch in anderen Bundesländern noch nicht so selbstverständlich ist.
Insgesamt hat Berlin im Bereich der Schulsozialarbeit und der Integration von multiprofessionellen Teams, wie Sozialarbeiter*innen, Erzieher*innen und Psycholog*innen, einen klaren Vorsprung. Diese Teams sind in Berlin längst ein fester Bestandteil des Schulalltags, während in anderen Teilen Deutschlands oft noch Widerstände oder Schwierigkeiten bestehen, diese Struktur umzusetzen. Daher kann man sagen, dass Berlin hier definitiv ein Vorreiter ist, was sowohl die Struktur als auch die Akzeptanz von Schulsozialarbeit betrifft.