•   Rubrik Bericht

Raus aus der Klinik, rein in die Kieze

  • Autor Christine Göttert
  • Veröffentlichungsdatum 25. April 2025
  • Lesezeit 10 Minuten

Ein Aktenschrank, drei Stühle und eine halbe Stelle. Derart „üppig“ ausgestattet gründeten drei frisch diplomierte Psychologen Mitte der 1980er Jahre die Krisenselbsthilfegruppe Wedding und leiteten so – gemeinsam mit weiteren Wegbereiter*innen – die Reform der Psychiatrie in Berlin ein. „Den Schrank habe ich heute noch“, sagt Friedrich Kiesinger, Geschäftsführer der Albatros gGmbH und lächelt bei dem Gedanken an die ersten Fördermittel, die er vom damaligen CDU-Senat unter dem Regierenden Bürgermeister Richard von Weizäcker und Gesundheitssenator Ulf Fink erhalten hatte.

Wir wollten die Mauern der klassischen Institutionen – Psychiatrien, Gefängnisse – aufbrechen.

Friedrich KiesingerFoto: Dennis Weinbörner

Hervorgegangen war die Initiative aus einem Projekt des Psychologischen Instituts der Freien Universität Berlin, das sich, inspiriert von der Studentenbewegung, einer kritischen Psychologie verschrieben hatte, für die das Konzept der Gemeindepsychiatrie zentral war. „Wir wollten die Mauern der klassischen Institutionen – Psychiatrien, Gefängnisse – aufbrechen. Und wir wollten, dass die Gesellschaft sich nicht nur tolerant zeigt, sondern offen wird für Unterschiedlichkeit“, beschreibt Kiesinger den Geist der damaligen Zeit. Professoren wie Klaus Holzkamp und Jarg Bergold gaben dafür die Richtung vor: „Wir können nicht darauf warten, dass die Menschen zu uns kommen – wir müssen zu ihnen gehen.“ Und so mietete das Institut Ende der 1970er Jahre eine große Altbauwohnung im Wedding an und funktionierte sie mit Spiegelwänden und Videotechnik zum Forschungslabor um. „Etwa 30 Studierende arbeiteten dort gemeinsam mit zwei Professoren und mehreren wissenschaftlichen Mitarbeitenden in unterschiedlichen Arbeitsfeldern: Gefangenenarbeit, Stadtteilarbeit oder – wie in meinem Fall – der Arbeit mit Menschen nach Selbsttötungsversuchen.“ Ziel war es, Betroffene unmittelbar nach dem Versuch zu erreichen. Und so gingen die Studierenden in Berliner Kliniken, kämpften sich an Ärzten vorbei, führten Gespräche mit Betroffenen, betreuten diese im Anschluss in den Räumen im Wedding gruppentherapeutisch.

So viel Engagement überzeugte auch die Politik. Als das Uniprojekt auslief, wandten sich Kiesinger und seine Kollegen mit der Bitte um Förderung an den Senat. „Als wir das erste Mal in der Senatsverwaltung aufschlugen – gemeinsam mit einem Elektromeister, einem suchtkranken Finanzbeamten, einer BVG-Kontrolleurin – da waren die Leute baff: Ihr bringt ja echte Menschen mit, nicht nur Konzepte!“ Es passte außerdem gut ins Programm, die CDU verfolgte damals die Idee, dass der Staat nicht alles leisten könne und die Zivilgesellschaft gestärkt werden müsse. So entstand der berühmte Berliner Selbsthilfetopf.

Es waren Initiativen wie diese, die Bewegung in die Versorgung psychisch kranker Menschen brachte. Die Psychiatrie-Enquête von 1975 hatte bundesweit Missstände aufgedeckt: überfüllte Anstalten, Isolation, rechtliche Schutzlosigkeit. Sie war der Beginn einer Bewegung, die auf Integration und Teilhabe setzte. Die gesellschaftliche Atmosphäre der 1970er Jahre – politisiert, aufbruchsbereit, geprägt vom Willen zur Demokratisierung – war offen für neue Modelle. Berlin nahm dabei eine besondere Rolle ein und wurde mit seinen verschieden Unterstützungsangeboten jenseits der Klinikmauern zum Vorzeigemodell für gemeindepsychiatrische Versorgung.

Protest gegen Kürzungen in der Gemeindepsychiatrie im April 2025 © Dennis Weinbörner

An der Geschichte der Berliner Sozialpsychiatrie lässt sich beispielhaft erzählen, wie politische Umbrüche, gesellschaftliche Bewegungen und persönliches Engagement zusammenspielen können und so aus einer Reformidee ein gut ausgebautes Versorgungssystem entsteht. Allerdings muss man mit Blick auf die aktuellen Kürzungsdebatten feststellen, dass es auch nicht viel braucht, um gewachsene und bewährte Strukturen wieder ins Wanken zu bringen. Was einst aus der politischen Erkenntnis notwendiger Reformen heraus begann, steht heute unter Finanzierungsvorbehalt. Stellvertretend für all jene Pionier*innen, die die außerklinische Versorgung in Berlin aufgebaut haben, erzählt Friedrich Kiesinger von der Geschichte, der Gegenwart und der Zukunft der Gemeindepsychiatrie.

Enthospitalisierung spielte bei der  Reform eine große Rolle. Wie war die Kliniksituation in Berlin?

In Reinickendorf befand sich damals die größte Nervenklinik Westberlins, die Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik, die im Zuge der Reform aufgelöst werden sollte. Dort lebten über 1.200 Patient*innen. Der Bezirk holte Fachleute an die Klinik und den Sozialpsychiatrischen Dienst, es wurde eine Träger-GmbH für den Wohnbereich gegründet. Auch unsere inzwischen gegründete, gemeinnützige Gesellschaft Albatros wurde gebeten, eine der ersten Kontakt- und Beratungsstelle zu eröffnen, das war 1986. Bald darauf folgten eine Tagesstätte und eine Textilwerkstatt, und so entstand der erste gemeindepsychiatrische Verbund im Bezirk.

Wie wurde das von der damaligen Stadtgesellschaft aufgenommen?

Psychiatrie war immer noch ein großes Tabuthema. Man muss sich klar machen, dass es in den Allgemeinkrankenhäusern damals noch keine psychiatrischen Abteilungen gab. Als Vivantes in Reinickendorf eine psychiatrische Abteilung neben der Geburtsstation einrichtete, war die Angst zunächst groß. Gleichzeitig war der gesellschaftliche Umbruch nicht mehr aufzuhalten. Die alten, autoritären Strukturen waren längst aufgebrochen und die Bewegung hin zu mehr Vielfalt und Gleichberechtigung hatte die Politik längst erreicht. Es herrschte (parteienübergreifende) Einigkeit, dass psychisch kranke Menschen Raum, Infrastruktur und Perspektive brauchten. Viele chronisch erkrankte Menschen, die Jahre und zum Teil Jahrzehnte hinter Klinikmauern verbracht hatten, konnten in Wohnungen umziehen.

Wie wurde die Gemeindepsychiatrie ausgestaltet?

Schon damals gab es in Charlottenburg und Reinickendorf Psychiatriekoordinatoren. Diese entwickelten ein Modell auf Basis soziografischer Daten, das die Grundlage für das Psychiatrie-Entwicklungsprogramm (PEP) bildete und das nach der Wiedervereinigung auch auf die Ostbezirke ausgeweitet wurde. Mir wurde die Leitung des „Telefons des Vertrauens“ angeboten – einer zentralen psychosozialen Anlaufstelle in der DDR. Parallel dazu wurde Albatros damit betraut,  weitere Kontakt- und Beratungsstellen, Selbsthilfezentren und Nachbarschaftseinrichtungen in Ostberlin aufzubauen.

Wo stehen wir denn heute in Bezug auf die psychosoziale Versorgung?

Psychische Erkrankungen nehmen kontinuierlich zu. In den 1980er Jahren lag der Anteil psychischer Erkrankungen bei der Rentenversicherung bei rund 8 Prozent. Heute sind es etwa 43 Prozent. Auch bei den Krankentagen stellt psychische Belastung inzwischen einen erheblichen volkswirtschaftlichen Faktor dar. Die Kosten für stationäre Behandlung und auch für die Eingliederungshilfe steigen, die Mittel für zuwendungsfinanzierte Projekte, die präventiv arbeiten werden kaum erhöht. Man fragt sich Warum? Erkennt die Politik die Dimension der Aufgabe nicht?

Es scheint, als denke Politik oft nur von Legislaturperiode zu Legislaturperiode.

Ja, und es fehlt auch an politischem Willen. Das gesellschaftliche Bewusstsein für psychische Erkrankungen ist enorm gewachsen. Heute muss sich niemand mehr schämen, wenn er sich für psychisch erkrankte Menschen einsetzt. Aber in der Politik nimmt sich kaum jemand dieses Themas an.

Was braucht Berlin, um die Versorgung weiterzuentwickeln?

Eine gut besetzte Verwaltung! Viele versierte und gestaltungsfähige Mitarbeitende gehen in den Ruhestand. Wenn wir diese Kompetenz in der Verwaltung verlieren, verzetteln wir uns als Stadt und als Land.

Ohne Bürokratieabbau wird es auch nicht gehen. Diese Mikrosteuerung, diese Überregulierung – da müssen wir dringend raus. Deshalb setzen wir uns auch für bereits früher in Berlin erprobte Trägerbudgets ein.

Ich wünsche mir außerdem mehr Optimismus. Natürlich braucht es eine auskömmliche und tragfähige Finanzierung. Aber es braucht auch Menschen, die die Vielfalt unserer Stadt verteidigen und den wirtschaftlichen Mut haben, Neues zu gründen und neue Wege der Integration zu finden. Was wir brauchen, ist Gestaltungslust. Den Mut, Fehler zu machen, nicht immer erst alles perfekt zu durchdenken, sondern einfach mal voranzugehen.

übrigens

  • Was einst als kleine Reformbewegung begann, ist heute ein zentraler Bestandteil der Berliner Versorgungslandschaft: Allein unter dem Dach des Referats Soziale Psychiatrie des Paritätischen Berlin arbeiten 97 Träger der Eingliederungshilfe. Sie betreiben rund 300 Einrichtungen und Dienste – darunter 50 Beschäftigungstagesstätten, 26 Kontakt- und Beratungsstellen, fünf Alkohol- und Medikamentenberatungsstellen, 100 Zuverdienstprojekte, sieben Selbsthilfeorganisationen sowie den Berliner Krisendienst. Diese Vielfalt ist mehr als Versorgung: Sozialpsychiatrie ist Teil der städtischen Infrastruktur, Motor für Teilhabe und ein relevanter Wirtschaftsfaktor. Und auch wenn in diesem Text ein einzelner Akteur im Fokus steht: Die Geschichte der Gemeindepsychiatrie ist die Geschichte vieler.