•   Rubrik Bericht

"Jedem Krüppel seinen Knüppel"

  • Autor Birgit Raddatz
  • Veröffentlichungsdatum 25. April 2025
  • Lesezeit 14 Minuten

In den Siebziger- und Achtzigerjahren herrscht Aufbruchstimmung in Westdeutschland und Westberlin. Behinderte Menschen formulieren einen Anspruch auf Selbstvertretung, der es bis in die UN-Behindertenrechtskonvention schafft. Auch Ursula Aurien war von Anfang an mit dabei. Sie ist heute im Vorstand von ambulante dienste – einem Verein, der behinderte Menschen dabei unterstützt, ein selbstbestimmtes Leben zu führen.

Als Uschi Aurien in den 1950er Jahren in Wolfsburg aufwächst, ist Barrierefreiheit ein Fremdwort. Es gibt nur zwei Bereiche für behinderte Menschen, in denen sie Unterstützung finden: entweder in der Familie oder bei der gemeinnützigen Organisation "Lebenshilfe". Oft herrscht die Vorstellung, dass Autonomie und Selbstbestimmung enden, wenn Menschen auf Hilfe angewiesen sind.

Genau hier setzt das Prinzip der persönlichen Assistenten und Assistentinnen, die durch den Verein ambulante dienste vermittelt werden, an. Uschi Aurien ist dort seit vielen Jahren Vorstandsmitglied und hat vier feste persönliche Assistentinnen, erzählt sie. Sie helfen ihr bei alltäglichen Dingen. „Dabei sind meine Wünsche maßgebend.“ Assistent*innen helfen auch im Haushalt. Kurzum: Sie übernehmen die Aufgaben, die für Nichtbehinderte selbstverständlich sind. Für manche bedeutet das, sich hinter dem Ohr zu kratzen.

Die Anfänge eines neuen Selbstbewusstseins

Nach einer Erkrankung im Säuglingsalter trägt Uschi Aurien als Kind zunächst einen Stützapparat. In der Schule muss ihre Zwillingschwester ihr von der Tafel vorlesen. „Damit wurde sie zu meiner ersten, persönlichen Assistentin“, sagt Uschi Aurien. Mit ihrer Schwester durfte sie alles, ohne sie fast gar nichts. Wurde sie dadurch früh selbstständig oder eher abhängig? Sie weiß es nicht.

Als Erwachsene arbeitet Uschi Aurien zunächst in der Verwaltung. In den Siebzigerjahren hängt sie schließlich ihren Job an den Nagel, zieht nach Berlin und studiert Sozialarbeit.

Fast gleichzeitig gründet sich in Bremen die erste "Krüppelgruppe". Wichtig war der Bewegung zunächst die Abgrenzung gegen Dominanz und Vereinnahmung durch Nichtbehinderte. Es sei eine Zeit gewesen, erinnert sich Uschi Aurien, als die Heime für behinderte Menschen als Erfolg gefeiert und die Spender ausgezeichnet wurden – die, um die es ging, hatten keine Lobby. „Die Wohltäter feiern sich selbst – für Menschen mit Behinderung ist die Welt an der nächsten Stufe zu Ende.“

1981 soll das UNO-Behindertenjahr stattfinden – doch im Vorfeld bilden sich Initiativen aus verschiedenen Menschen in mehreren Städten. Sie fordern, dass auch die Sichtweise der Betroffenen eine Rolle spielt.

Mit Krücke und Rolli auf die Bühne

Wie stark körperliche Normabweichungen zu dieser Zeit mit negativen Assoziationen verknüpft wurden, zeigt sich im Februar 1980. Ein Ehepaar klagt auf Schadensersatz gegenüber einem Reiseveranstalter. Den Urlaubern wird eine Minderung des Reisepreises zugstanden, weil sie in ihrem Urlaub den Anblick behinderter Menschen "ertragen" musste. Der Fall geht in die Geschichte als "Frankfurter Urteil" ein – und löst zahlreiche Proteste aus. Der sich entwickelnden Behindertenbewegung gab es einen Selbstbewusstseinsschub und beflügelte die Vorbereitungen der Behinderteninitiativen zum UNO-Jahr.

Auch Uschi Aurien fährt nach Dortmund zur Eröffnung. Mit dem Motto "Jedem Krüppel seinen Knüppel" setzen sie dem offiziellen Slogan "Miteinander leben" etwas entgegen. Das Ziel: die Rede des Bundespräsidenten stören. Vor der Halle bilden sie einen langen Zug, zunächst wollen die Sicherheitsleute sie nicht in die Halle lassen, erinnert sich Uschi Aurien. Als der damalige Bundespräsident Karl Carstens die offizielle Eröffnungsrede halten will, besetzen Teile der Bewegung die Bühne. Auch Uschi Aurien. „Dabei zu sein, wenn so etwas passiert, ist toll.“ Mehrere Rollstuhlfahrer*innen ketten sich aneinander, weil sie befürchten, geräumt zu werden. Carstens hält seine Rede schließlich in einem Nebenraum. Nur ein halbes Jahr später verpasst ihm Franz Christoph mit seiner Krücke bei der Eröffnung der REHA-Messe in Düsseldorf zwei leichte symbolische Schläge – und macht darauf aufmerksam, dass der Widerstand von Menschen mit Behinderung nicht ernst genommen wird.

  • 1987 protestieren in Berlin Menschen mit Behinderung spontan gegen die Kürzungen beim sogenannten Telebus-Fahrdienst, einem Fahrdienst für Menschen mit Mobilitätseinschränkungen. © ambulante dienste e.V.
  • 1991 gibt es erneut Protestaktionen gegen Kürzungen und Missstände im Telebus-Fahrdienst. © ambulante dienste e.V.
  • 1996: Protest gegen die geplante Pflegeversicherung, die sich für die Belange behinderter Menschen als nicht bedarfsgerecht herausstellt © ambulante dienste e.V.

"Aufstand der Betreuten"

Der politische Aufschrei der Betroffenen war fortan in der Welt, weit nach Ende des UNO-Behindertenjahrs. Nur ein Jahr später findet in München ein wegweisender Kongress statt. Dort werden unterschiedliche Modelle der Unterstützung körperbehinderter Menschen aus dem europäischen Ausland und den USA vorgestellt. Der Begriff der "Assistenz" findet den Weg in die deutsche Diskussion.

Auch für die Menschen der Bewegung ändert sich manches. Der Mitbegründer der Krüppelbewegung, Horst Frehe, zieht als einer der ersten in ein Landesparlament ein, es kommt zur Bildung einer Bundesarbeitsgemeinschaft Behindertenpolitik.

Später schreibt Uschi Aurien für die Zeitschrift "die randschau". Die randschau gilt als Sprachrohr der Behindertenbewegung. Zum einen geht es um die Schaffung von Infrastruktur für behinderte Menschen. Aber auch um politische Selbstvertretung. „Wir haben uns gefragt: Wo muss sich die Gesellschaft verändern, um aussondernde Strukturen zu beseitigen“, erklärt Uschi Aurien.

Das ‚Musterkrüppelchen‘: lieb, dankbar, ein bisschen doof und leicht zu verwalten, hatte ausgedient.

Uschi Aurienin einem Artikel in der "randschau"

In einigen Städten gründen sich ambulante Dienste, später Zentren für Selbstbestimmtes Leben. Der 8. Mai 1981 markiert die Geburtsstunde von ambulante dienste e.V. Berlin – als Gegenmodell zum Heim. Der Anfang ist klein und chaotisch, die Motivation dafür hoch. Von Anfang an ist ambulante dienste e.V. kein reiner Pflegedienst, sondern setzt das Prinzip der Selbstbestimmung um. Bis heute macht sich der Verein dafür stark, dass behinderte Menschen ihr Leben so gestalten können, wie sie es wollen. „Das ‚Musterkrüppelchen‘: lieb, dankbar, ein bisschen doof und leicht zu verwalten, hatte ausgedient“, schreibt Uschi Aurien in einem Artikel.

In der Gesellschaft und besonders in der Frauenbewegung werden zeitgleich Dinge wie die pränatale Diagnostik und das Recht auf Abtreibung diskutiert. Ende der 1980er Jahre erscheint ein Fachbuch mit dem Titel "Sollen, dürfen, können Behinderte heiraten?".

Die Bedenken von behinderten Frauen sind in der Frauenbewegung kaum repräsentiert. „Wir gehörten nirgends richtig hin“, erinnert sich Aurien. Also gründeten sie "Krüppelfrauen-Gruppen" und stellten eigene politische Forderungen auf. 

Mit dem Rolli unterwegs

Ende der Achtzigerjahre bekommt Uschi Aurien ihren ersten Rollstuhl. Weiterhin löst sie vieles allein, ist mit Rollstuhl und Handbike unterwegs und schreibt darüber.

Mitte der Neunzigerjahre wird das Grundgesetz geändert. Fortan heißt es in Artikel 3, Absatz 3: "Niemand darf wegen seiner Behinderung benachteiligt werden." Ein Jahr später kritisieren Betroffene die geplante Pflegeversicherung, die sich für ihre Belange als nicht bedarfsgerecht herausstellt. In Berlin findet sich das Bündnis für selbstbestimmtes Leben zusammen, an dem auch ambulante dienste e.V. beteiligt ist. In einer Vereinbarung mit dem Land Berlin wird die bisherige Praxis von ambulante dienste schließlich verankert. Immer wieder muss der Verein jedoch für die Kostenübernahmen kämpfen, wenn es etwa darum geht, persönliche Assistenz auch im Krankenhaus in Anspruch zu nehmen.

2006 wird schließlich die UN-Behindertenrechtskonvention verabschiedet, an deren Formulierung auch Aktivistinnen und Aktivisten der deutschen Bewegung beteiligt waren. Deutschland setzt die Konvention zwar um – jedoch ergab die zweite Staatenprüfung 2023, dass es immer noch zum Beispiel erhebliche Mängel im Bereich von Barrierefreiheit im Gesundheitswesen gibt. „Deutschland hat die Konvention unterzeichnet, setzt sie aber nicht um. Im Grunde ist das eine tolle Absichtserklärung. Die Realität sieht aber leider anders aus“, sagt Uschi Aurien.

Auch deshalb bleibt sie im Vorstand von ambulante dienste kämpferisch: „In Zeiten von Kürzungen müssen wir immer wieder schauen, dass der Zug unserer Rechte nicht zurück in die Vergangenheit fährt.“