Feministische Wegbereiterinnen
Das Feministische Frauengesundheitszentrum und die Interkulturelle Initiative e.V. setzen sich für selbstbestimmte Gesundheit und umfassenden Gewaltschutz ein. Ihr Ziel: Faktoren, wie Alter, Geschlecht, Behinderung und Herkunft in ihrer Arbeit mitdenken und so sichere, selbstbestimmte Räume für Frauen und andere benachteiligte Menschen schaffen.
Im Jahr 1973 führen zwei US-amerikanische Feministinnen in einem Berliner Frauenzentrum eine vaginale Selbstuntersuchung durch. Über 300 Frauen schauen dabei zu, wie sie mit einem Spekulum ihre Geschlechtsteile betrachten. Ein euphorisierender und empowernder Moment der Frauenbewegung, der die zweite Welle des Feminismus im Deutschland der Siebzigerjahre prägen sollte. Als Reaktion bildeten sich in Berlin mehrere Frauenselbsthilfegruppen. Aus einer von ihnen ging das das Feministische Frauengesundheitszentrum (FFGZ) hervor.
Das FFGZ hat seinen Sitz in Schöneberg und wurde im Jahr 1974 gegründet – in Deutschland das Erste seiner Art. Von Beginn an verstand sich das FFGZ als ein politischer Ort. „Das Ziel war, den Frauen die Kontrolle über ihren eigenen Körper und ihre Gesundheit zu ermöglichen“, sagt Petra Bentz, die seit 1985 als Beraterin beim FFGZ arbeitet.
Ein zentrales Thema des FFGZ in den Siebzigerjahren waren Schwangerschaftsabbrüche. „Berlin lag damals inmitten der DDR und es war sehr schwer an Abtreibungsmöglichkeiten zu kommen. Das hat die Frauen natürlich bewegt“, sagt Bentz. Ein legaler Schwangerschaftsabbruch war in Westberlin zwar möglich – aber mit hohen Hürden verbunden. Die isolierte Lage der Stadt erschwerte Reisen in Länder wie die Niederlande oder England, in denen Abtreibung unter liberaleren Bedingungen erlaubt war. Damals gab es im FFGZ nur eine Stelle. Das Zentrum lebte von der ehrenamtlichen Selbsthilfe.

Bentz erinnert sich gerne an die „Aufbruchstimmung“ der Achtzigerjahre – „die Hochzeit der damaligen Frauenbewegung“ – zurück: „Die klassische Schulmedizin wurde hinterfragt und hormonelle Verhütungsmittel wie die Pille zunehmend kritisch betrachtet“, sagt sie. Bentz und ihre Kolleg*innen erhielten Schulungen in der Anpassung von Diaphragmen und Portiokappen – beides Alternativen zur hormonellen Verhütung, die an die individuelle Anatomie angepasst und korrekt eingesetzt werden müssen.
Heute arbeitet im FFGZ ein sechsköpfiges Team – aufgeteilt auf nur drei Stellen. Es berät Frauen auf Deutsch und Englisch zu Themen wie Verhütung, Menstruation und Wechseljahren und bietet Workshops zur vaginalen Selbstuntersuchung an.
Ein Schwerpunkt des Zentrums liegt auf den gesundheitlichen Folgen von Gewalt. Frauen, die das FFGZ aufsuchen, hätten nicht nur gesundheitliche, sondern teils auch psychische Probleme, die ihren Ursprung in jahrelanger Gewalt haben. „Menschen, die von sexualisierter Gewalt betroffen sind, leiden darunter ein ganzes Leben“, sagt Bentz. Das bekomme sie bei ihrer Arbeit hautnah mit. Sie würde sich wünschen, dass für diesen Bereich im FFGZ mehr Stellen geschaffen werden. „Gesundheit und Gewalt müssen stärker zusammen gedacht werden“, findet sie.
Dabei gehe es nicht um Gewalt allein, sondern auch darum, wie sie mit anderen Diskriminierungsformen zusammenwirkt. Seit den Achtzigerjahren bemühe sich das Zentrum, intersektional zu arbeiten – also z.B. Herkunft, Geschlecht, Behinderung oder Hautfarbe mitzudenken. „Das hat nicht immer direkt so geklappt, wie wir uns das vorgestellt haben“, sagt Bentz. Heute richtet sich das Beratungsangebot des FFGZ auch an nicht-binäre und genderfluide Menschen. Die Räume sind barrierefrei zugänglich.
Intersektionalität und Gewaltschutz sind Themen, die auch Dr. Nadja Lehmann beschäftigen – allerdings in einem anderen Arbeitsfeld. Sie ist Geschäftsführerin und Mitbegründerin der Interkulturellen Initiative e.V., einem freier Träger, der im Jahr 2000 gegründet wurde und Berlins sechstes Frauenhaus an zwei Standorten betreibt. Der zweite, 2021 eröffnete Standort ist barrierefrei zugänglich. Zudem betreibt der Träger Zufluchtswohnungen für Frauen und ihre Kinder und eine Fachberatungs- und Interventionsstelle.
Frauenhäuser bieten Schutz für Frauen, die partnerschaftliche Gewalt erlebt haben. Das sechste Frauenhaus verfügt über insgesamt 57 Plätze – inklusive der Kinder von Frauen. „Das sind wenig Plätze angesichts der Anfragen von Frauen, die wir nicht aufnehmen können, weil wir vollbelegt sind“, sagt Lehmann. Einige der Bewohner*innen halten sich bis zu zwei Jahren in den Frauenhäusern auf. Ihre Miete übernimmt das Land Berlin. Eine Besonderheit des sechsten Frauenhauses ist, dass dort auch Transfrauen aufgenommen werden.
Viele deutsche Frauenhäuser verzeichnen einen hohen Anteil nichtdeutscher und damit häufig migrantisch gelesener Frauen. Das belegt die Frauenhaus-Statistik 2023. Die Ursachen dafür sind vor allem strukturell: „Schon in den Neunzigern wurde diskutiert, ob migrantisch gelesene Frauen häufiger Gewalt erleben, weil sie in Einrichtungen überrepräsentiert sind“, sagt Lehmann. Dabei werde häusliche Gewalt oft fälschlich auf „Kultur“ reduziert. Doch patriarchale Gewalt gebe es in allen Gesellschaften und sozialen Klassen.

Lehmanns Blick auf den Gewaltschutz wurde durch ihre Arbeit im 1976 gegründeten Ersten Autonomen Frauenhaus Westdeutschlands geprägt. Nach der Schließung 1999 gründeten Lehmann und weitere Kolleg*innen die Interkulturelle Initiative e.V. – mit dem Ziel, Frauenhäuser intersektionaler zu gestalten. Ein „Standardangebot“ für Frauen reicht aus Lehmanns Sicht nicht aus – weil sich die Gruppe der Frauen aus unterschiedlichen Menschen zusammensetzt, mit verschiedenen Erfahrungen und Bedürfnissen.
Ein Frauenhaus mit Barrieren, sei es durch fehlende Fahrstühle, ein Verbot von älteren Söhnen oder Haustieren, schließe Frauen in besonders prekären Situationen aus. „Eine Frau in einer Gewaltbeziehung, die nach Deutschland geflüchtet ist und einen behinderten 18-jährigen Sohn hat, der im Rollstuhl sitzt, hat es sehr viel schwerer, einen Frauenhausplatz zu finden“, sagt Lehmann. Um zu verhindern, dass Frauen in solchen Fällen in ihren Gewaltbeziehungen bleiben, nimmt die Interkulturelle Initiative im Ausnahmefall nach sorgfältiger Prüfung auch ältere Söhne bis 18 auf.
Intersektionalität im Gewaltschutz zeigt sich auch im diversen, 50-köpfigen Team von Lehmann, das mehrere Generationen vereint. Einige der Mitarbeiter*innen sind migrantisch gelesen, andere haben selbst in einem Frauenhaus gelebt. Sie seien wichtige Türöffner für betroffene Frauen und ihre Kinder.
Voraussichtlich 2029 wird die Interkulturelle Initiative das neunte Berliner Frauenhaus eröffnen. Die Finanzierung sei gesichert. „Nach längerem baulichem Stillstand wird der barrierefreie Ausbau mit dem Land Berlin in diesem Jahr fortgesetzt“, sagt Lehmann. Diesen Erfolg schreibt sie auch der Istanbul-Konvention zu. Die verpflichtet unterzeichnende Länder zum ganzheitlichen Gewaltschutz von Frauen und Mädchen. In Deutschland ist sie seit 2018 geltendes Recht. Gewaltschutzprojekte wie die Interkulturelle Initiative hätten seither an politischer Relevanz gewonnen.
„Aber wir wissen nie, wie lange diese Unterstützung anhält“, sagt Lehmann. In fünf Jahren könne die Situation ganz anders aussehen – das hänge immer davon ab, wie sich die gesellschaftliche Einstellung zum Gewaltschutz entwickelt. Auch darauf sei die Interkulturelle Initiative durch ihre langjährige Erfahrung vorbereitet.
Wenn Lehmann eines aus den vergangenen Jahren im intersektionalen Gewaltschutz mitgenommen hat, dann dies: „Wir warten nicht mehr, bis wir politisches Gehör erhalten. Wir fangen einfach an.“ Ganz im Sinne jener Frauen, die sich 1973 ein Spekulum nahmen – und einfach anfingen.
Glossar
- Frauen
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Frauen meint in diesem Text nicht nur cis Frauen (Personen, denen bei der Geburt das weibliche Geschlecht zugewiesen wurde und die sich auch selbst als Frauen identifizieren), sondern auch trans, inter und nicht-binäre Personen, die sich (teilweise) als Frauen identifizieren oder ähnliche körperliche Erfahrungen machen.
- migrantisch gelesen
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migrantisch gelesen meint, dass Menschen von anderen zum Beispiel aufgrund ihres Aussehens oder ihres Namens als „nicht deutsch“ oder „ausländisch“ wahrgenommen werden – auch wenn sie keine Migrationserfahrung haben oder in Deutschland geboren sind.