•   Rubrik Themenbeitrag

Safe Space Boxring

  • Autor Milena Müller
  • Veröffentlichungsdatum 05. November 2024
  • Lesezeit 7 Minuten

Boxgirls Berlin ist kein gewöhnlicher Boxverein. Hier trainieren Mädchen und junge Frauen nicht nur Kampfsportarten wie Kickboxen und Muay Thai. Sie lernen auch, mutig für sich und andere einzustehen. Edna Martinez und Linos Bitterling sind im Vorstand der Boxgirls und erzählen von großen und kleinen Erfolgen des Vereins, von Herausforderungen und davon, wie der Boxring zum Safe Space – zum diskriminierungsfreien Ort – wird. Ein Interview.

Edna Martinez, Linos Bitterling und Kathryn Roberts von den Boxgirls Berlin © Theresa Kühnert

Warum kommen die Mädchen und jungen Frauen zu euch ins Boxtraining?

Edna Martinez: Ich denke, es hat mit unseren Werten zu tun. Wir sind ein feministischer, queerer, antirassistischer Verein. Den Menschen, die zu uns kommen, geht es nicht nur um Sport. Viele haben aufgrund von Gender, Sexualität, Herkunft, Hautfarbe, Religion, Migrationssituation Gewalt und gesellschaftliche Ausgrenzung erfahren. Wir bieten ihnen sicherere Räume, in denen sie ihre körperliche und geistige Kraft entdecken und verstärken, in denen sich alle gegenseitig unterstützen und Verantwortung für das Wohlbefinden der Gruppe übernehmen können. Wir versuchen, die patriarchalen, rassistischen Muster, die leider immer noch im Kampfsportbereich dominieren, aufzubrechen.

Wie gelingt es euch, diesen Safe Space zu gewährleisten, in dem alle so sein können, wie sie sind?

Edna Martinez: Für uns hat ein Safe Space drei Komponenten: eine physische, eine soziale und eine emotionale. Physisch heißt, dass wir in der Nähe der Menschen sind, die zu uns kommen. Zum Beispiel in der Nähe von Schulen und Jugendzentren. Und wir bieten unsere Trainings kostenlos oder zu fairen Preisen an. Auf sozialer Ebene sind wir ein sicherer Ort, weil hier Mädchen, junge Frauen, Frauen und Menschen aus der LGBTIQ*-Gemeinschaft ohne Angst vor Missbrauch und gemeinsam ihre eigenen Vorstellungen von Stärke und Macht entwickeln können. Das hat auch eine emotionale Auswirkung, weil die Teilnehmerinnen wissen, dass wir uns um sie kümmern, ihnen zuhören, sie über ihre Bedürfnisse sprechen können und sich stark, aber auch verletzlich zeigen dürfen.

Dabei ist Boxen ein vermeintlich brutaler Sport. Wie lässt sich das zusammendenken: Boxen und diskriminierungskritische Arbeit?

Edna Martinez: Sexistische, rassistische und fremdenfeindliche Gewalt zielt darauf ab, die Betroffenen physisch und psychisch zu zerstören. Das gilt auch für Gewalt aufgrund von sozialen Hintergründen und wirtschaftlichem Status. Deshalb besteht ein Teil unserer Arbeit darin, dass unsere Teilnehmer*innen ihre individuelle Stärke auf physischer, emotionaler und psychologischer Ebene erkennen und anerkennen, aber auch ihre Stärke als Teil einer Gemeinschaft – einer Gemeinschaft von Respekt, Solidarität und Fürsorge. In unseren Trainings lernen sie, zuzuschlagen, aber auch sich selbst und andere Menschen zu umsorgen und schützen. Das ist für uns besonders wichtig, weil wir sehen, dass Individualismus und Einsamkeit zunehmen oder Gemeinschaftsgefühl instrumentalisiert wird, um andere auszuschließen. Und dass sich Hass- und Verachtungsreden verbreiten, insbesondere gegenüber denen, die von einem Teil der deutschen Gesellschaft als „anders“ angesehen werden.

Du hast es schon angesprochen: Boxen ist seit jeher eine von Männern dominierte Sportart – wieso eigentlich?

Edna Martinez: Fast alles wurde von Männern dominiert, außer der Care-Arbeit. Auch beim Boxen galt: Die Anerkennung und der Zugang war lange Männern vorbehalten. Außerdem wurde dem Boxen nachgesagt, brutal zu sein. Boxen war ein Sport der Arbeiterklasse und für viele Männer oft eine Möglichkeit oder ein Traum, der Armut zu entkommen. Erst in den letzten Jahrzehnten hat das Boxen in der Mittel- und Oberschicht an Bedeutung gewonnen. Die Verbesserung der körperlichen Fitness, Muskelaufbau und der technische und wettbewerbsorientierte Aspekt sind in den Fokus gerückt.

Boxen als „männlicher Sport“: Warum ist es so wichtig, daran etwas zu ändern?

Edna Martinez: Es ist wichtig, dass Stereotype von Stärke, Mut und Tapferkeit nicht länger ausschließlich mit Männern in Verbindung gebracht werden. Wir müssen die absurde Vorstellung aufbrechen, dass es Dinge für Männer und Dinge für Frauen, für Jungen oder für Mädchen gibt. Es ist notwendig, die Teilung von Arbeit, Rechten und Privilegien, die oft gewaltsam durchgesetzt wurde, zu durchbrechen. Alle Menschen sollten die gleichen Möglichkeiten haben, ihre Interessen, Fähigkeiten und Talente zu entwickeln, unabhängig von ihrer sexuellen oder geschlechtlichen Identität, ihrer Hautfarbe oder ethnischen Herkunft, ihrem religiösen Glauben oder der Menge an Geld, die sie besitzen.

Gibt es eine Geschichte aus der Vereinsarbeit der Boxgirls, die dich besonders berührt?

Edna Martinez: Muslimischen Boxerinnen wurde lange das Boxen mit dem Hijab untersagt. Wir haben eine Kampagne gestartet, um diese absurde und diskriminierende Praxis zu ändern. Jetzt dürfen muslimische Frauen in der Kleidung boxen, die ihren Überzeugungen und ihrer Kultur entspricht. An diesem großen Erfolg war auch Zeina Nassar beteiligt – die erste Frau, die mit Kopftuch gekämpft hat und Misshandlungen sowie rassistische, fremden- und frauenfeindliche Angriffe ertragen musste.

Neben dieser großen Geschichte berührt mich, wie unsere Arbeit auf jede Person, die an unseren Workshops und Kursen teilnimmt, und auf historisch marginalisierte Gemeinschaften wie die Migrantengemeinschaft, die Afro-Black-Personen und die queere Community wirkt. Wir haben zum Beispiel eine Boxgruppe mit fast 30 nicht-weißen Personen, viele unserer Boxerinnen und Trainerinnen sind Musliminnen, und wir schaffen sichere Räume für sie. Wir bieten Trainings für junge Menschen an, die ihre Geschlechtsidentität definieren, sowie für diejenigen, die sich als nicht-binär oder trans queer identifizieren. Und wir bieten kostenlose Trainings für geflüchtete Menschen an.

Ihr habt mit eurer Arbeit schon viel erreicht. Was kann jetzt noch kommen?

Linos Bitterling: Damit unsere Arbeit nachhaltig wirken kann, müssen wir unsere Angebote langfristig verstetigen. Dafür wäre eine Regelförderung durch den Senat wichtig. So könnten wir unser Angebot auf mehr Bezirke ausweiten und weitere Initiativen entwickeln, die gezielt auf die Bedürfnisse der Community, Kinder und Jugendlichen eingehen. Wir könnten kontinuierlich qualitativ hochwertige Trainings, Workshops und Veranstaltungen mit den Schwerpunkten Inklusion, Selbstbewusstsein und Anti-Diskriminierung anbieten.

Außerdem wollen wir mehr an Meisterschaften und offiziellen Kämpfen teilnehmen – in der Erwartung, dass sich das wettbewerbsorientierte Umfeld des Boxens so verändert, dass sexistische, rassistische und homophobe Verhaltensweisen keinen Platz mehr haben. Und wir machen unseren Verein internationaler. Wir sammeln Arbeitserfahrungen in Kenia und Südafrika und unterstützen den Bau eines Gemeinschaftszentrums in Kolumbien, in dem Boxen praktiziert werden soll. Für 2025 planen wir einen internationalen Boxaustausch.

Unser Anspruch ist es, als Verein nicht nur Safe Space für unsere Mitglieder zu sein, sondern auch eine Stimme gegen Hass und Extremismus. Was gerade passiert, bestärkt uns in unserer Arbeit und unserem Engagement für eine inklusive und respektvolle Gemeinschaft.

Linos Bitterling, Boxgirls Berlin

Queerfeindliche Hasskriminalität nimmt zu, die rechtsextreme Partei „Der Dritte Weg“ verteilt Propaganda-Material vor Berliner Schulen und organisiert in Ost-Berlin Kampfsporttraining für Jugendliche. Die AfD sitzt in 14 Landesparlamenten und spätestens seit Januar wissen wir, dass sich Rechte und Rechtsextreme über sogenannte „Remigration“ austauschen. Was macht das mit euch? Verändert das eure Arbeit im Verein?

Linos Bitterling: Das ist alarmierend und macht uns sehr betroffen. Wir spüren, dass diese Entwicklungen nicht nur die Sicherheit unserer Mitglieder gefährden, sondern auch das gesellschaftliche Klima beeinflussen. Wir sehen es als unsere Verantwortung, aktiv gegen diese Tendenzen anzugehen. Das bedeutet, dass wir uns nicht nur verstärkt auf die Förderung von Selbstbewusstsein und Gemeinschaft konzentrieren, sondern auch auf Aufklärungsarbeit. Wir organisieren Workshops und Diskussionsrunden, um das Bewusstsein für queerfeindliche Gewalt zu schärfen und die Teilnehmenden zu stärken, sich aktiv gegen Diskriminierung einzusetzen. Wir legen großen Wert auf klare Anti-Diskriminierungsrichtlinien und wir arbeiten eng mit anderen queeren und antifaschistischen Gruppen zusammen, um ein starkes Netzwerk zu bilden. Zum Beispiel mit der Initiative "Berlin gegen Nazis". In unserer Satzung ist seit langem ein Ausschlussparagraph eingefügt, mit dem wir Personen mit menschenverachtendem Gedankengut aus dem Verein ausschließen können.

Wir wollen auch unsere Sichtbarkeit erhöhen und klare Positionen gegen menschenfeindliche Strömungen beziehen. Unser Anspruch ist es, als Verein nicht nur Safe Space für unsere Mitglieder zu sein, sondern auch eine Stimme gegen Hass und Extremismus. Was gerade passiert, bestärkt uns in unserer Arbeit und unserem Engagement für eine inklusive und respektvolle Gemeinschaft.

Dieses Engagement gibt es schon seit 2005. Nächstes Jahr steht ein Jubiläum der Boxgirls an – wird gefeiert?

Linos Bitterling: Ich freue ich mich sehr auf unser 20-jähriges Jubiläum! Dieses Jubiläum ist für uns nicht nur Anlass zu feiern, sondern auch um unsere Werte zu stärken. Unsere Jubiläumsfeier soll ein starkes Zeichen gegen Diskriminierung setzen. Wir möchten zeigen, dass wir nicht nur auf unsere Erfolge zurückblicken, sondern auch bereit sind, die Herausforderungen, die vor uns liegen, aktiv anzugehen. Gemeinsam können wir eine noch inklusivere Gemeinschaft schaffen und unser Engagement für Gleichheit und Respekt festigen.

übrigens

  • Der Verein Boxgirls Berlin ist auch außerhalb der Trainingshallen aktiv und bietet Workshops und Schulprogramme durch. Im berlinweiten Projekt „My Body – My Choice“ werden mit Mädchen und jungen Frauen in verschiedenen Workshopformaten Diversität, Privilegien und Mehrfachdiskriminierung thematisiert.

übrigens

  • „Berlin gegen Nazis“ ist eine Initiative, die sich seit 2014 gegen Rechtsextremismus, Rassismus, Antisemitismus und Verschwörungsideologie einsetzt. Sie informiert Berliner*innen und vernetzt verschiedene Organisationen, Bündnisse und Einzelpersonen für gemeinsame Aktionen und Demonstrationen.