Rassismus? Nicht mein Problem!
Deutschland ist ein multikulturelles Land. Menschen unterschiedlicher Herkünfte, Sprachen und Religionen, aber auch sexueller Orientierungen, körperlicher Beeinträchtigungen und sozioökonomischer Schichten leben hier zusammen. Sie treffen sich in der Schule, engagieren sich in Vereinen und teilen sich Arbeitsplätze. Diversität ist eine nicht abzustreitende Tatsache in unserer Gesellschaft. Ebenfalls nicht abzustreiten ist, dass da, wo es Vielfalt gibt, auch Spannungen und Konflikte sind.
Auch wenn manche mit Deportationsphantasien und lauten Asylstopp-Rufen wünschen und fordern, die Gesellschaft zu homogenisieren, führt aktuell kein Weg daran vorbei, dass wir einen Umgang mit Vielfalt erlernen müssen. Was bedeutet das konkret? Wir müssen Widerspruchstoleranz fördern und uns befähigen diskriminierungskritischer zu werden. Wie kann man das erreichen und was sind die Herausforderungen?
In meiner Funktion als Antidiskriminierungsbeauftragter (ADB) der Berliner Senatsverwaltung für Bildung, Jugend und Familie wurde mir rasch bewusst, dass Diskriminierung an Schulen nicht nur vorkommt, sondern weit verbreitet ist. Erschütternderweise wird Diskriminierung jedoch selten sofort als solche anerkannt – weder von den Verantwortlichen, noch von unbeteiligten Dritten. Die häufigste Reaktion war Abwehr: „Ist das wirklich schon Rassismus?“ oder deutlicher: „Das ist doch gar nicht rassistisch!“ Selbst wenn Diskriminierung einmal anerkannt wurde, wurde sie oft als harmloses Missverständnis abgetan, das durch eine Entschuldigung schnell aus der Welt geschafft werden könne.
Ein besonders eindrückliches Beispiel zeigt, wie tief die strukturelle Hilflosigkeit reicht: Ein jüdisches Kind wurde an einer Berliner Schule antisemitisch gemobbt und physisch angegriffen. Dem vom Antisemitismus betroffenem Kind fehlte an der Schule Schutz, Empathie, eine Anlaufstelle und Beratung und Unterstützung. Es gab kein strukturiertes Melde- und Beschwerdesystem vor Ort. Und am Ende mussten die Konsequenzen des antisemitischen Vorfalls nicht die Verursacher tragen, sondern das jüdische Kind, das die Schule verlassen musste. Es verlor nicht nur sein soziales Umfeld, sondern auch das Vertrauen in die Institution Schule, die eigentlich dazu da ist, alle Kinder zu schützen.
Diese Fälle sind keine Ausnahme. Sie illustrieren ein systematisches Versagen: Die Betroffenen werden erneut zu Opfern, weil das System nicht in der Lage ist, ihnen Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Meistens müssen sich die Betroffenen oder ihre Familien selbst für ihre Rechte einsetzen. Ein Vater eines Transgenderkindes kämpfte monatelang dafür, dass sein Kind im Sportunterricht nicht weiter diskriminiert wurde. Doch die Schule, die eigentlich für den Schutz des Kindes zuständig gewesen wäre, versagte in ihrer Verantwortung. Ähnlich erging es nordafrikanischen Eltern, die den Rassismus gegen ihr Kind selbst benennen und anprangern mussten. Lehrkräfte, die täglich mit diesen Kindern arbeiteten, reagierten oft hilflos oder ignorierten das Problem. Kinder mit Behinderungen werden nicht ausreichend geschützt: In einem Fall wurde einem Kind mit Gehbehinderung der Zugang zum Schulaufzug verweigert – eine absurde Situation, die nicht nur diskriminierend, sondern auch gefährlich war.
Wenn Schulen es nicht schaffen, Betroffene zu schützen und Diskriminierung konsequent zu ahnden, schaffen und befördern sie ein System der Ungerechtigkeit.
Diese Beispiele zeigen, dass Diskriminierung an Schulen nicht nur individuelle Fälle, Einzelfälle, sind, sondern tief in die Strukturen des Bildungssystems eingebettet sind. Wenn Schulen es nicht schaffen, Betroffene zu schützen und Diskriminierung konsequent zu ahnden, schaffen und befördern sie ein System der Ungerechtigkeit.
Die Beispiele zeigen noch etwas anderes. Und zwar die Tatsache, dass es vor allem Betroffene selbst sind, die Diskriminierung ansprechen. Oftmals sind sie damit ganz auf sich allein gestellt. Es sind die Betroffenen, die den Kampf gegen Rassismus, Antisemitismus, Hass, Ausgrenzung und Gewalt führen und auch anführen. Menschen, die nicht von Diskriminierung betroffen sind, ignorieren Diskriminierung oft oder gönnen sich den Luxus, sich nicht damit auseinanderzusetzen. Während Kroos zum Beispiel Fußball-Workshops zu modernen Spielzügen anbietet, behandeln Asamoahs Workshops Rassismus.
Es gibt aber auch Situationen, in denen man die Mitsprache von Menschen, die nicht von Diskriminierung betroffen sind, nicht zulässt. „Bist du ein Schwarzer? Warum mischst du dich ein?“ bekommen sie zu hören, wenn sie den Rassismus ansprechen, den sie beobachten. Auch diese Reaktionen helfen uns nicht weiter, wenn wir systematisch gegen Rassismus vorgehen wollen. Während in der Vergangenheit ein großes Problem die Missachtung oder Vernachlässigung der Betroffenenperspektive war, gibt es aktuell auch den Trend, die Mitsprache Nicht-Betroffener zu verhindern. Betroffenheit bzw. Nicht-Betroffenheit führt auch beim Antisemitismus zum Teil zu seltsamen Positionierungen. „Ich bin kein Jude und habe nichts gegen Juden! Deshalb berührt mich das Thema Antisemitismus nicht.“ Dieser Aussage liegt Gleichgültigkeit zu Grunde. Eine Haltung, die tödlich für eine Demokratie sein kann.
Eine Haltung jedoch, die zwingend notwendig ist und gefördert werden muss, ist die Widerspruchstoleranz. Eine Eigenschaft, die dabei hilft Irritationen auszuhalten und gewohntes Wissen zu hinterfragen, um letztendlich mit Toleranz und Respekt statt Ablehnung und Hass auf Neues zu reagieren. Widerspruchstoleranz ist auch die Fähigkeit, die eigenen Vor- und Einstellungen kritisch zu überprüfen und sich somit ständig selbst zu reflektieren.
Am Beispiel der Schule, die ja bekannterweise das Spiegelbild einer Gesellschaft in klein ist, weiterzumachen, kann ein wirklicher Wandel nur durch systematische und tiefgreifende Reformen erreicht werden.
Ein zentraler Schritt ist dabei die Veränderung der Lehramtsausbildung. Diskriminierungsbewusstsein und Inklusionskompetenz müssen integrale Elemente in der Lehramtsausbildung sein. Lehrkräfte sind Schlüsselfiguren im Kampf gegen Diskriminierung, doch nur, wenn sie ausreichend geschult sind, können sie diese Verantwortung übernehmen.
Diskriminierung sollte nicht als optionales „Zusatzthema“ im Lehramtsstudium behandelt werden. Zukünftige Lehrkräfte müssen lernen, Diskriminierung in all ihren Formen zu erkennen, zu analysieren und aktiv dagegen vorzugehen. Das bedeutet, dass sie nicht nur theoretisches Wissen über Rassismus, Sexismus, Antisemitismus und andere Formen der Diskriminierung erwerben, sondern auch praktische Fähigkeiten entwickeln, um in akuten Fällen handlungsfähig zu sein. Lehrkräfte sollten im Umgang mit Konflikten und Diskriminierungssituationen geschult werden, um sowohl präventiv als auch reaktiv handeln zu können. Hierzu gehören sowohl Antidiskriminierungs- als auch Mediationskompetenzen.
Jede Schule sollte über ein Team von Antidiskriminierungsbeauftragten verfügen, die nicht nur beratend tätig sind, sondern über echte Handlungskompetenzen verfügen.
Parallel zur Ausbildung müssen auch Strukturen geschaffen werden, die eine nachhaltige und kontinuierliche Antidiskriminierungsarbeit ermöglichen. Jede Schule sollte über ein Team von Antidiskriminierungsbeauftragten verfügen, die nicht nur beratend tätig sind, sondern über echte Handlungskompetenzen verfügen. Diese Beauftragten sollten aus unterschiedlichen Disziplinen kommen und als feste Anlaufstelle für Schülerinnen und Schüler, Eltern sowie Lehrkräfte fungieren. Sie sollten befähigt sein, aktiv in den Schulalltag einzugreifen und bei Diskriminierungsvorfällen rasch und effektiv zu reagieren. Dabei ist eine regelmäßige Weiterbildung unerlässlich, um sicherzustellen, dass sie auf dem neuesten Stand der Forschung und Praxis bleiben.
Forschung und Evaluation: Eine solide Grundlage für den Wandel
Um gegen Diskriminierung effektiv vorzugehen, benötigen wir eine klare Datenbasis. Mehr Forschung über den Stand, die Ausmaße und die Auswirkungen von Diskriminierung an Schulen ist von entscheidender Bedeutung. Der Mangel an systematischen Untersuchungen bedeutet, dass oft nur fragmentarische Kenntnisse über die tatsächliche Lage an den Schulen vorliegen. Wie wirkt sich Diskriminierung auf die schulischen Leistungen, das psychische Wohlbefinden und die langfristigen Entwicklungschancen von betroffenen Schülerinnen und Schülern aus? Diese Fragen müssen wissenschaftlich fundiert beantwortet werden, um gezielte Maßnahmen entwickeln zu können.
Die Forschung muss nicht nur die aktuelle Situation beschreiben, sondern auch neue Wege aufzeigen, wie Diskriminierung in Schulen verhindert werden kann. Dabei geht es nicht nur um quantitative Erhebungen, sondern auch um qualitative Studien, die Einblicke in die alltäglichen Erfahrungen von Betroffenen geben. Gleichzeitig müssen die eingeführten Maßnahmen kontinuierlich evaluiert werden, um deren Wirksamkeit zu überprüfen. Nur durch eine solide Forschung und Evaluation können wir sicherstellen, dass unsere Maßnahmen tatsächlich die gewünschten Ergebnisse erzielen und langfristig zu einem diskriminierungsfreien Bildungssystem beitragen.
Niedrigschwellige Beschwerde- und Meldestrukturen: Leichter Zugang für alle Betroffenen
Ein weiteres zentrales Element zur Bekämpfung von Diskriminierung ist die Einrichtung von niedrigschwelligen Beschwerde- und Meldestrukturen. Viele Betroffene von Diskriminierung wissen nicht, an wen sie sich wenden sollen, oder haben Angst vor negativen Konsequenzen, wenn sie Vorfälle melden. Oftmals fehlen in Schulen transparente und leicht zugängliche Anlaufstellen, an die sich Schüler und Eltern vertrauensvoll wenden können. Diese Strukturen müssen so gestaltet sein, dass sie für alle Beteiligten leicht erreichbar und ohne bürokratische Hürden zugänglich sind.
Es braucht klare und verständliche Meldewege, die von den Schulen aktiv kommuniziert werden. Vertrauensvolle Ansprechpersonen innerhalb und außerhalb der Schule müssen zur Verfügung stehen, um Vorfälle aufzunehmen und ohne Verzögerung zu bearbeiten. Diese Beschwerdestellen sollten eng mit den Antidiskriminierungsbeauftragten der Schulen zusammenarbeiten, um sicherzustellen, dass Vorfälle nicht unter den Teppich gekehrt werden und dass die Betroffenen wirksame Unterstützung erhalten.
Vertrauen ist hier der Schlüssel. Die Betroffenen müssen sich darauf verlassen können, dass ihre Meldungen ernst genommen und die Vorfälle ohne negative Folgen für sie selbst behandelt werden. Die Einführung solcher Meldestrukturen sollte von einer klaren Kommunikationsstrategie begleitet werden, damit jeder in der Schulgemeinschaft – von den Schülerinnen und Schülern bis zu den Lehrkräften – weiß, wie Diskriminierung gemeldet werden kann und welche Schritte nach einer Meldung folgen.
Antidiskriminierung als Mittel zur Verbesserung des Schulklimas und der Bildungschancen
Ein oft übersehener Vorteil einer systematischen Antidiskriminierungsarbeit an Schulen ist die deutliche Verbesserung des Schulklimas. In Schulen, in denen Diskriminierung aktiv bekämpft wird, herrscht nicht nur mehr Respekt und Toleranz, sondern auch ein positiveres Lernumfeld. Schülerinnen und Schüler, die sich sicher und respektiert fühlen, lernen besser und sind motivierter, am Unterricht teilzunehmen. Dies zeigt sich in besseren schulischen Leistungen, weniger Fehlzeiten und einer höheren Zufriedenheit der Schüler mit ihrer Schule.
Das Schulklima hat einen erheblichen Einfluss auf die Lernbereitschaft und das soziale Verhalten der Schülerinnen und Schüler. Ein Umfeld, in dem Vielfalt und gegenseitiger Respekt gefördert werden, führt zu weniger Konflikten und Mobbing, was wiederum zu einer positiveren Lernatmosphäre beiträgt. Ein diskriminierungsfreies Schulumfeld stärkt das Gefühl der Zugehörigkeit und des Vertrauens, was wiederum die gesamte Schulgemeinschaft stabilisiert und harmonisiert.
Die langfristigen Vorteile: Eine gerechtere Gesellschaft und bessere Bildungschancen für alle
Die Vorteile einer konsequenten Antidiskriminierungspolitik beschränken sich nicht nur auf die schulische Ebene. Langfristig hat sie weitreichende gesellschaftliche Auswirkungen. Schülerinnen und Schüler, die in einer diskriminierungsfreien Umgebung aufwachsen, entwickeln ein starkes Bewusstsein für soziale Gerechtigkeit und werden zu verantwortungsbewussten, reflektierten Mitgliedern der Gesellschaft. Sie lernen, Vielfalt als Bereicherung zu sehen und Vorurteile abzubauen, was sich auf ihr späteres Leben und ihr Verhalten als Erwachsene auswirkt.
Diskriminierung behindert nicht nur den individuellen Bildungserfolg, sondern auch den sozialen und wirtschaftlichen Aufstieg von ganzen Bevölkerungsgruppen. Wenn wir Diskriminierung in der Schule konsequent bekämpfen, sorgen wir dafür, dass alle Schülerinnen und Schüler die gleichen Chancen haben, ihre Potenziale zu entfalten und ihre Träume zu verwirklichen – unabhängig von ihrer Herkunft, Religion, Geschlechtsidentität oder Behinderung. Dadurch tragen wir zu einer gerechteren und inklusiveren Gesellschaft bei, in der alle Menschen die gleichen Rechte und Möglichkeiten haben.
Darüber hinaus zeigt die Forschung, dass inklusive Bildungssysteme nicht nur für die direkt betroffenen Schülerinnen und Schüler von Vorteil sind, sondern auch für die gesamte Gesellschaft. Eine bessere Bildung führt langfristig zu weniger sozialer Ungleichheit, weniger Konflikten und einem stärkeren wirtschaftlichen Wachstum. Schulen, die Diskriminierung aktiv bekämpfen und Vielfalt fördern, tragen daher nicht nur zu einer gerechteren Gesellschaft bei, sondern schaffen auch die Grundlage für eine stabile und erfolgreiche Zukunft. Dadurch kehrt sich der Spiegel um: Statt nur die Gesellschaft widerzuspiegeln, tragen gute Schulen aktiv dazu bei, positive Veränderungen in die Gesellschaft zurückzuspiegeln. Darin liegt die Macht von Bildung.
übrigens
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Im Oktober ist Derviş Hızarcıs Buch „Zwischen Hass und Haltung“ erschienen. Es erzählt von einer besonderen Bildungsreise. Sie beginnt im postmigrantischen Berlin zu einer Zeit, in der jemand wie Derviş Hızarcı schmerzvoll erfahren musste, nicht dazuzugehören. Und sie führt ihn schließlich in die Verantwortung, die Bedingungen für ein gelingendes, vielfältiges Zusammensein jeden Tag neu zu formulieren.
- über den Autor
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Derviş Hızarcı, geboren 1983 in Berlin, leitet seit 2015 als Vorstandsvorsitzender die Kreuzberger Initiative gegen Antisemitismus (KIgA). Er arbeitete als Lehrer, engagierte sich bei der Türkischen Gemeinde in Berlin und war Antidiskriminierungsbeauftragter der Berliner Senatsverwaltung. Seit 2019 sitzt er im Beratungskreis des Beauftragten der Bundesregierung für jüdisches Leben in Deutschland und den Kampf gegen Antisemitismus. Für sein Engagement in der Einwanderungsgesellschaft – insbesondere im Zusammenhang des jüdisch-muslimischen Dialogs – bekam er die Verdienstmedaille der Bundesrepublik Deutschland aus den Händen von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier verliehen. In Interviews und Beiträgen in der Jüdischen Allgemeinen, der taz, im Tagesspiegel meldet sich Derviş Hızarcı regelmäßig als Experte zu Wort. Als leidenschaftlicher Fußballer spielt er seit zehn Jahren bei TuS Makkabi Berlin.