Queer alt werden
In Berlin leben aktuell rund 185.000 pflegebedürftige Menschen. In den nächsten Jahren und Jahrzehnten werden es voraussichtlich noch mehr – nämlich dann, wenn die sogenannte Babyboomer-Generation alt wird. Das beschäftigt Gesellschaft und Politik. Pflege ist ein vieldiskutiertes Thema, bei dem sich die öffentliche Debatte immer wieder vor allem um den Fachkräftemangel dreht. Davon, wie Pflege für queere Menschen gehen kann, dringt hingegen wenig an die Öffentlichkeit.
Zwei Paritätische Mitgliedsorganisationen, die sich seit vielen Jahren mit diversitätssensibler Pflege beschäftigen, sind Rad und Tat – Offene Initiative Lesbischer Frauen, kurz RuT, und die Schwulenberatung Berlin. Sie haben Wege gefunden, die Situation von queeren Menschen, die auf Pflege angewiesen sind, zu verbessern.
Wie will ich leben? Wo will ich leben und mit wem? Jutta Brambach, Geschäftsführerin der lesbischen gemeinnützigen GmbH RuT, weiß, dass das Fragen sind, die ältere und behinderte lesbische Frauen stark beschäftigen. „Die Vorstellung von einem Leben in einer herkömmlichen Pflegeeinrichtung erschreckt viele“, so Brambach. „Sie haben Angst, dort Diskriminierung zu erfahren, wenn sie sich outen.“ Oft finde ein Outing folglich gar nicht erst statt. Und wer sich in ihrem direkten Lebensumfeld nicht outen könne, könne auch nicht authentisch leben. Das bestätigt Elsa Paus von der Fachstelle LSBTI*, Alter(n) & Pflege in der Schwulenberatung Berlin: „Viele queere Menschen haben aufgrund ihrer Lebensweise schon einmal mitunter traumatische Diskriminierung erfahren – auch im Gesundheitswesen. Die Sorge, dass sich diese Erfahrung in einer Pflegesituation fortführt, ist sehr nachvollziehbar. Gerade, weil Pflege viel mit Abhängigkeit und Vertrauen zu tun hat.“
‘Wir behandeln alle gleich‘, das ist in der Pflege einfach der falsche Ansatz.
Was also muss sich ändern, damit alle – unabhängig von sexueller Orientierung oder geschlechtlicher Identität – gute Pflege erfahren? „‘Wir behandeln alle gleich‘, das ist in der Pflege einfach der falsche Ansatz“, erklärt Dr. Marco Pulver. Er ist Projektleiter der Fachstelle LSBTI*, Alter(n) & Pflege in der Schwulenberatung Berlin. Und er engagiert sich seit über 20 Jahren dafür, dass die Bedürfnisse queerer Menschen in der Pflege ernst genommen werden. Queersensible Pflege – das bedeutet vor allem, dass sich sowohl Pflegebedürftige, aber auch Pflegefachkräfte und Besucher*innen in Einrichtungen angstfrei outen können und sich nicht erklären müssen. Dass sich Menschen, die an Demenz erkrankt sind, immer wieder aufs Neue angstfrei outen können. Dass Menschen, ihre Lebensweisen und ihre Körper so angenommen werden, wie sie sind.
Queersensible Pflege hat viele Facetten. Achtsamkeit und Bewusstsein von Personal, so Jutta Brambach von RuT, seien wichtige Stellschrauben. Mit Blick auf ältere lesbische Frauen bedeutet das zum Beispiel, dass Pflegefachkräfte Bescheid wissen über die strukturelle Ungleichheit der Geschlechter, über die Geschichte des feministischen Aktivismus oder darüber, dass sich die Erfahrung sexualisierter Gewalt auf körperliche Pflege auswirken kann. „Wenn man älter wird, wird die Rückschau auf das Leben wichtig. Gute Erinnerungen werden aktiviert. Vielleicht aber auch solche, die mit Ausgrenzung oder sexualisierter Gewalt zu tun haben“, erklärt sie. „Natürlich öffnet man sich dann lieber einer Person, die einfühlsam ist und weiß wovon man spricht.“
In Pflegeeinrichtungen waren queere Lebensweisen lange kein Thema. ‚Gibt es bei uns nicht‘ oder ‚Um was sollen wir uns denn noch kümmern?‘ waren typische Reaktionen, die sowohl an RuT als auch an die Schwulenberatung Berlin im Austausch mit Pflegeeinrichtungen herangetragen wurden. Jutta Brambach ist davon überzeugt, dass inzwischen ein Umdenken stattfindet und dass die Bereitschaft größer ist, sich mit der LSBTI*-Community und queersensibler Pflege auseinanderzusetzen.
Dass sie damit richtig liegt, zeigt ein Zertifizierungsprojekt der Schwulenberatung Berlin, das vor sieben Jahren an den Start gegangen ist und inzwischen bundesweit auf so großes Interesse stößt, dass es eine lange Warteliste gibt: das Qualitätssiegel Lebensort Vielfalt®. Mit dem Qualitätssiegel werden stationäre Pflegeeinrichtungen, ambulante Pflegedienste, Tagespflegestätten, aber auch Hospize und Krankenhäuser ausgezeichnet, wenn sie ein diversitätssensibles Umfeld schaffen. „Anfangs war das Qualitätssiegel nur auf queersensible Pflege ausgerichtet. Vor Kurzem wurde das Programm um den Schwerpunkt migrations- bzw. postmigrationssensible Pflege erweitert“, erzählt Marco Pulver. Vor der Auszeichnung durchlaufen die Einrichtungen einen Prozess, der in etwa so abläuft: Sie werden informiert und beraten, dann implementieren sie die Voraussetzungen für eine diversitätssensible Pflege. Es folgt eine Begutachtung durch die Schwulenberatung Berlin, die die Einrichtung besichtigt, Dokumente prüft und Gespräche mit Mitarbeitenden und Bewohner*innen führt. Am Ende steht die feierliche Siegelverleihung. Nach drei Jahren muss die Zertifizierung erneuert werden.
Welche Voraussetzungen erfüllt sein müssen, erklärt Kristin Marquart, Mitarbeiterin im Programm Qualitätssiegel Lebensort Vielfalt®: „Wichtig ist zum Beispiel, dass die Vielfaltsdimensionen im Leitbild verankert sind, dass Dokumente wie der Aufnahmebogen entsprechend angepasst werden und dass es klare Strategien gegen Diskriminierung gibt. Aber auch, dass nach außen sichtbar ist, dass eine Einrichtung queer- und migrationssensibel ist.“ Die Qualifizierung kommt allen zugute: Pflegebedürftige erfahren eine bessere Versorgung. Ihre Angehörigen oder Wahlfamilie, aber auch die Mitarbeitenden fühlen sich wohler. „Und die Einrichtung bekommt viel positives Feedback. Viele berichten, dass sie in ihrer Region als ausgezeichnete diversitätssensible Einrichtung Leuchtturm-Charakter haben und Pflegepreise gewinnen“, so Marquart.
So wichtig und wegweisend eine Zertifizierung von Pflegeeinrichtungen ist – die Entscheidung, das gewohnte Umfeld zu verlassen und in eine Pflegeeinrichtung zu ziehen, bleibt schwierig. Und so ziehen es viele queere Menschen vor, in einer Community alt zu werden.
Die finden sie zum Beispiel im Lebensort Vielfalt am Südkreuz in Schöneberg. Die Schwulenberatung Berlin hat diesen Ort im Oktober 2023 eröffnet. In knapp 70 Wohnungen leben dort queere Menschen generationenübergreifend zusammen. Es gibt ein Café, einen Innenhof und Gemeinschaftsräume, in denen die Bewohner*innen des Hauses – Alleinstehende, Paare und Familien – für Aktivitäten und Gespräche zusammenkommen. Und es gibt eine Wohngemeinschaft, die rund um die Uhr von einem queersensiblen Pflegedienst versorgt wird. Das Wohn- und Esszimmer der WG ist hell und gemütlich eingerichtet. Hier sitzen die Bewohner*innen beisammen, essen, unterhalten sich, hören Musik. An warmen Tagen steht die Balkontür offen. Dann hören sie die Kinder, die im Garten der Kita toben, die ebenfalls zum Lebensort Vielfalt gehört.
Was das Hausprojekt am Südkreuz ausmacht? „Dass queere Menschen ohne Angst vor Diskriminierung oder Unverständnis in einer Gemeinschaft leben, die sie aktiv mitgestalten“, erklärt Elsa Paus von der Fachstelle LSBTI*, Alter(n) & Pflege. Das sei kein Selbstläufer, sondern eine echte Herausforderung. Wo über einhundert Menschen zusammenkommen, die sich noch nicht kennen und unterschiedliche Perspektiven, Geschichten und Erwartungen mitbringen, verwundert das nicht. Schritt für Schritt, berichtet Elsa Paus, wachse die Hausgemeinschaft zusammen. Es gibt AGs und Gesprächsgruppen. Das ist auch ein großer Gewinn für die acht Bewohner*innen der Pflege-WG, die sich direkt gegenüber eines großen Gemeinschaftsraums befindet. „Einige erzählen, dass sie früher mit Einsamkeit zu kämpfen hatten und jetzt, im hohen Alter, mehr Freundschaften haben als je zuvor. Berichte wie diese machen alle Anstrengungen wett und zeigen, wie wertvoll und schön dieser Ort ist“, so Paus.
Ein inklusiver Ort, an dem queere Menschen solidarisch und selbstbestimmt bis an ihr Lebensende zusammenleben können – den lässt auch RuT entstehen: mitten in Berlin, in unmittelbarer Nähe zum Alexanderplatz. „Wenn alles nach Plan verläuft, ist das Haus im Januar 2026 bezugsfertig und kann mit Leben erfüllt werden“, sagt Jutta Brambach. Die Idee für das Wohnprojekt sei vor vielen Jahren entstanden. Brambach leitete damals den Besuchsdienst von RuT, der lesbische Frauen zu Hause oder in Pflegeeinrichtungen aufgesucht hat – Frauen, deren Radius sich verkleinert hat, weil sie nicht mehr mobil und dadurch oft isoliert und einsam waren.
Das Konzept für das Wohnprojekt hat RuT schließlich gemeinsam mit älteren und behinderten queeren Frauen entlang ihrer Bedürfnisse entwickelt. Und so wird in der Berolinastraße in Mitte ein Haus gebaut, das behindertengerecht ausgestattet ist, das Begegnungen – unter Hausbewohner*innen, aber auch mit der Nachbarschaft – und Teilhabe ermöglicht. „Dass jede einzelne Bewohnerin die Möglichkeit hat, die Hausgemeinschaft aktiv mitzugestalten und ihre eigenen Ideen einzubringen, ist uns ganz wichtig“, betont Brambach. Was RuT in Zusammenarbeit mit der kommunalen Wohnungsgesellschaft WBM baut, ist nicht nur Wohnhaus, sondern auch soziokulturelles Zentrum für den Kiez. Schon vor der Grundsteinlegung im Januar 2024 hat RuT gemeinsam mit der Stadtteilkoordination und der Gleichstellungsbeauftragten des Bezirks die direkte Nachbarschaft einbezogen und informiert. Es gab Straßenfeste, Vernetzungstreffen und Stadtteilspaziergänge. Schließlich, so Brambach, habe das Wohnprojekt auch ein politisches Anliegen: nämlich queere ältere und behinderte Frauen sichtbarer zu machen.
Feministische, queersensible Pflege war von Beginn an Teil des Konzepts. In der Berolinastraße wird es einen ambulanten Pflegedienst geben, der für alle im Haus ansprechbar ist und eine Pflege-WG mit acht Zimmern betreut. Er wird auch dafür sorgen, dass die Bewohner*innen der Pflege-WG auch dann an Gemeinschaftsaktionen im Haus teilnehmen können, wenn sie nicht mehr mobil sind.
Besonders lesbische, alleinstehende Frauen und queere Menschen sind von Altersarmut betroffen. In Berlin wird es für sie immer schwieriger, eine bezahlbare Wohnung zu finden.
Projekte wie die der Schwulenberatung Berlin und des Vereins RuT sind auch vor dem Hintergrund des angespannten Berliner Wohnungsmarktes von großer Bedeutung. Beide Organisationen legen Wert darauf, dass sie dauerhaft bezahlbaren Wohnraum zur Verfügung stellen. Im Lebensort Vielfalt am Südkreuz und in der Berolinastraße ist jeweils rund die Hälfte der Wohnungen gefördert. „Besonders lesbische, alleinstehende Frauen und queere Menschen sind von Altersarmut betroffen. In Berlin wird es für sie immer schwieriger, eine bezahlbare Wohnung zu finden“, sagt Jutta Brambach.
Wie, wo und mit wem lebe ich, wenn ich älter werde und auf Hilfe angewiesen bin? Sich damit auseinanderzusetzen, dürfte niemandem leichtfallen. Erst recht nicht denjenigen, deren Lebenserfahrung von Ausgrenzung und Ungleichbehandlung geprägt ist. Sich im Alter gut aufgehoben zu fühlen – das sollte für alle gewährleistet sein.
RuT und die Schwulenberatung Berlin leisten dazu einen großen Beitrag. Und dennoch ist es noch ein weiter Weg bis zu einer guten Pflege für alle. „In einer vielfältigen Gesellschaft muss diversitätssensible Pflege zum Standard werden“, sagt Marco Pulver von der Schwulenberatung Berlin. „Und dafür braucht es ein viel größeres Bewusstsein in der Politik.“ Und Jutta Brambach von RuT betont: „Um mehr Projekte für queeres Zusammenleben und queersensible Pflege realisieren zu können, brauchen Vereine und Initiativen eine bessere Finanzierung. Vor allem lesbische Vereine haben es schwer in einer Gesellschaft, in der Frauen immer noch strukturell benachteiligt sind.“
Glossar
- diversitätssensibel sein
-
wertschätzend und bewusst mit menschlicher/gesellschaftlicher Vielfalt umgehen
- LSBTI*
-
Abkürzung für lesbische, schwule, bisexuelle, transgeschlechtliche und intergeschlechtliche Menschen; das Sternchen unterstreicht die Vielfalt sexueller Orientierungen und Geschlechtsidentitäten und gibt Raum für weitere Definitionen
- queer
-
transgeschlechtlich, intergeschlechtlich und/oder nicht heterosexuell
- queersensibel sein
-
wertschätzend und bewusst mit geschlechtlicher und sexueller Vielfalt umgehen
- Vielfaltsdimensionen
-
verschiedene Aspekte menschlicher Vielfalt, zum Beispiel Geschlechtsidentität, Nationalität oder soziale Herkunft
- Wahlfamilie
-
nahestehende Freund*innen