•   Rubrik Themenbeitrag

Im Kiez aktiv: Ankerpunkte für ein vielfältiges Berlin

  • Autor Dominique Hensel
  • Veröffentlichungsdatum 05. November 2024
  • Lesezeit 8 Minuten

Demokratie stärken, Vielfalt und Solidarität fördern – das sind wichtige Themen in Berlin. Das umzusetzen an der Basis der Stadt, in den Kiezen, dabei spielt die Stadtteilarbeit eine große Rolle. „Es ist sehr wichtig, dass es nicht-kommerzielle Orte gibt mit Angeboten für Menschen, die ganz unterschiedliche Anliegen haben und verschiedene Sprachen sprechen“, sagt Anika Göbel vom Paritätischen Wohlfahrtsverband Berlin. Damit Probleme und Bedürfnisse gehört werden und Beteiligung möglich wird, seien Ankerpunkte als Anlaufstellen wichtig: Stadtteilzentren, Nachbarschaftstreffs, engagierte und fußläufig erreichbare Projekte.

Hilfe organisieren, kommerzfreie Treffpunkte offenhalten, alte und neue Nachbarinnen und Nachbarn zusammenbringen – so setzen sich die Mitgliedsorganisationen des Paritätischen Berlin auch dafür ein, die Kieze widerstandsfähiger zu machen gegen Rassismus, Antisemitismus und Ausgrenzung jeder Art. „Stadtteilarbeit ist Beziehungsarbeit. Daher braucht es langfristig finanziertes Personal, dem die Menschen vertrauen. Dieses Vertrauen wiederum stärkt auch das Vertrauen in die Demokratie“, sagt Anika Göbel. Mithilfe der Stadtteilarbeit werde im Kleinen gezeigt, wie eine demokratische Gesellschaft funktioniert: mit niedrigschwelligen Beteiligungsmöglichkeiten in Projekten und Angeboten vor Ort, ehrenamtlichem Engagement und Selbsthilfe. Sie weist darauf hin, dass es einer auskömmlichen und langfristigen Finanzierung der Einrichtungen bedarf, die diese wichtige Arbeit leisten. „Daran muss Berlin weiter arbeiten“, sagt Anika Göbel.

Villa Lützow: Brücken bauen mit „Villa inklusiv“

Einer dieser Ankerpunkte ist das Mehrgenerationenhaus Villa Lützow in Tiergarten. Hier sind fünf soziale Organisationen unter einem Dach aktiv für die Nachbarschaft. Seit zwei Jahren arbeitet das Team um James Rosalind im Projekt „Villa inklusiv“ von Fipp e.V. daran, zwischen ihnen Brücken zu bauen und die Themen Vielfalt und Demokratie in die bestehenden Angebote einfließen zu lassen. „Wir haben zum Beispiel unsere Sprachcafés genutzt, um vor der Europawahl Politiker*innen einzuladen“, erzählt James Rosalind. Zum ersten Mal hat die Villa Lützow in diesem Jahr an der Symbolwahl teilgenommen: Menschen ohne Wahlrecht haben symbolisch ihre Stimme bei der Europawahl abgegeben.

Das Mehrgenerationenhaus Villa Lützow © Holger Groß

Die Angebote des Projekts „Villa inklusiv“ sollen Netzwerke innerhalb des Hauses aufbauen, Dialog schaffen, die Mitarbeitenden für Vielfalt sensibilisieren. „Wir organisieren zwei Mal im Jahr Workshops mit allen Projekten im Haus. Dabei entsteht unter anderem ein Verhaltenskodex“, erklärt Anouk Mayadoux, die das Projekt „Villa inklusiv“ koordiniert. Für die Nachbarschaft sind die Ergebnisse der Überlegungen in den Angeboten sichtbar. Ein Kurs zum arabischen Alphabet soll interkulturelle Begegnungen ermöglichen, ein Wechseljahre-Café gibt Raum für Austausch, es gibt ein Sprachcafé mit Kiezfrühstück, für das Ende der Woche hat das Team bei „Freitag ist queer“ gemeinsames Kochen und Essen auf den Terminkalender gesetzt. Immer wieder geht es darum, Menschen zusammenzubringen, zum Beispiel beim Fastenbrechen im Ramadan. „Da ist das ganze Haus eingeladen und auch Menschen aus der Nachbarschaft kommen dazu“, erzählt Anouk Mayadoux.

Gutshaus Lichterfelde: Neuen Themen für die Nachbarschaft

„Wir haben in diesem Jahr den Fokus auf Demokratie gelegt und versuchen, neue Themen in die Nachbarschaft zu bringen“, sagt Saskia Zimpel vom Gutshaus Lichterfelde, das zum Stadtteilzentrum Steglitz gehört. Die größte Veranstaltung, die dabei ausprobiert wird, ist das demokratiefördernde Sommerkino. „An drei Abenden haben wir zum Sommerkino eingeladen. Jeder konnte etwas zu Essen mitbringen, wir haben Pinnwände aufgestellt und Ideen gesammelt, was es noch im Kiez braucht, und wir haben versucht, schon vor dem Film ins Gespräch zu kommen“, erzählt Saskia Zimpel. In den ausgewählten Filmen ging es um Mobbing, um Verschwörungstheorien oder um Rassismus. Laut Saskia Zimpel sind zu den Vorführungen auch viele Nachbarinnen und Nachbarn gekommen, die zuvor niemals im Gutshaus Lichterfelde waren. „Wir versuchen mit diesem Angebot, die Tür aufzukriegen und ich würde das Sommerkino gern jährlich anbieten“, sagt sie.

Das demokratische Sommerkino im Gutshaus Lichterfelde © Maike Loerzer
"Steine mit Haltung" © Saskia Zimpel

Das Sommerkino ist aber nicht die einzige Idee, um zu dem bisher eher älteren Stammpublikum neue Zielgruppen ins Haus zu holen. Vielleicht findet jemand einen der „Steine mit Haltung“ am Wegesrand und auf der Suche nach den Urheber*innen den Weg ins Gutshaus Lichterfelde. „Die Idee ist, Steine mit Botschaften zu bemalen und im Park und im Kiez zu verteilen. Wir laden Schulklassen zum Bemalen ein“, sagt Saskia Zimpel. Auf den Steinen stehen dann Botschaften wie „Berlin bleibt bunt“, „Gemeinsam sind wir stark“ oder „Für Demokratie und Vielfalt“. Vielfalt ist auch das Leitmotiv des Queer-Cafés. Alle 14 Tage treffen sich hier queere Menschen in der selbstorganisierten Gruppe. Auch einen offenen Runden Tisch gibt es, an dem die Nachbarschaft aktuelle Kiezthemen besprechen kann: Es geht um Baustellen im Viertel oder um Demokratie in Lichterfelde. Neue Themen, neue Nachbarschaften – darum geht es Saskia Zimpel: „Die Offenheit bei den Besucher*innen ist schon da, aber sie müssen sich auch an Neues gewöhnen. Sie merken, dass hier jetzt frischer Wind zu spüren ist und viele finden das interessant.“

Verein für aktive Vielfalt: Willkommen in Hohenschönhausen!

Neža Peterle füllt das Projekt für Willkommenskultur mit buntem Leben. Sie arbeitet in Lichtenberg und Hohenschönhausen: „Hier gibt es viele rassistische Angriffe, aber auch viele engagierte Menschen.“ Sie selbst bezeichnet sich als Einzelkämpferin, denn für das Willkommenskultur-Projekt hat sie nur 20 Stunden pro Woche. Ihre Lösung ist die Zusammenarbeit mit anderen: „Ich kooperiere ganz viel im Haus und im Kiez, um unser Stadtteilzentrum für Zugezogene zu öffnen.“ Ihr Ziel sei es, einen Begegnungsort zu schaffen, an dem sich neue und alte Bewohnerinnen und Bewohner begegnen können. Die inhaltlichen Schwerpunkte liegen auf dem Kampf gegen Rassismus und auf Frauenempowerment.

Gerade bereitet Neža Peterle die „Plattentalks“ vor. Nach der Worldcafé-Methode kann hier über interkulturelle Missverständnisse gesprochen werden, Menschen aus verschiedenen Communities im Stadtteil werden dazu eingeladen. „Das ist mein Lieblingsprojekt, weil ich dabei sehe, wie wichtig es ist, dass die Leute aus dem Alltag erzählen“, sagt Neža Peterle. Ein Antrieb ist auch die politische Situation: „Bei der Europawahl haben in Lichtenberg und Hohenschönhausen viele die AfD gewählt. Das zeigt, dass wir uns noch mehr engagieren müssen, um einen Austausch zwischen den Menschen zu schaffen“. Eine Gelegenheit dafür bieten die Internationalen Wochen gegen Rassismus, die im kommenden März auch in Hohenschönhausen und Lichtenberg stattfinden sollen. Zu mehr Austausch trägt auch das „Kino für alle“ bei, das im Sommer das sechste Jahr in Folge auf die Beine gestellt wurde. „Bei den Vorführungen bemerken wir jedes Jahr ein bisschen mehr Vielfalt“, sagt Neža Peterle erfreut.

Der Verein für aktive Vielfalt in Hohenschönhausen © Neža Peterle

Gute Partnerinnen für das Einzelkämpferinnen-Willkommensprojekt sind laut Neža Peterle die BENN-Teams im Stadtteil. BENN ist die Abkürzung für „Berlin entwickelt neue Nachbarschaften“ und ein Programm der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung, Bauen und Wohnen. „Die organisieren hier zum Beispiel das Fastenbrechen, zu dem 500 Leute kommen“, sagt sie. Auch in Gemeinschaftsunterkünften für Geflüchtete ist ihr Projekt aktiv, etwa mit einem Fotoworkshop mit anschließender Ausstellung. „Es gibt einen großen Bedarf für Willkommensarbeit hier im Kiez. Man könnte drei Personen haben, aber ich bin allein. Also versuche ich, überall mit dabei zu sein, zum Beispiel bei der interkulturellen Woche oder der Nachhaltigkeitswoche“, sagt Neža Peterle.

Quarteera e.V.: Den Umgang mit queeren Menschen normalisieren

Bei Quarteera e.V. dreht sich alles um russischsprachige queere Menschen. „Wir sind deutschlandweit aktiv, seit fünf Jahren auch in Marzahn“, sagt Dmitrij Paramonov, Vorstand bei Quarteera. Der Verein bietet unter anderem Informationsveranstaltungen an, in dem zum Beispiel das deutsche Schulsystem erklärt wird. In Marzahn ist die Marzahn Pride die größte Veranstaltung des Vereins, seit fünf Jahren gibt es die queere Demonstration. „Die Marzahn Pride wird jedes Jahr größer. Die Reaktionen sind ganz verschieden“, erzählt Dmitrij Paramonov. Die Menschen schauen aus den Fenstern, wenn die Pride vorbeiziehe. „Manche winken mit Regenbogenfahnen, manche werfen mit Eiern“, sagt Dmitrij Paramonov. Die Marzahn Pride endet mit einem bunten Stadtteilfest mit Konzerten und vielen Info-Ständen.

  • Feiern und ... © Johannes Pol
  • ... demonstrieren auf der Marzahn Pride 2024 © Johannes Pol
  • Dmittrij Paramonov von Quarteera © Johannes Pol

Nach Marzahn habe sich Quarteera ganz bewusst orientiert: „Viele queere Veranstaltung sind in Mitte oder Kreuzberg. Wir wollten da hin, wo nicht so viel stattfindet.“ Präsenz zeigen und in Kontakt mit der Nachbarschaft kommen, das sind die Ziele der Aktion. „Wir wollen den Umgang mit queeren Menschen normalisieren“, sagt der Quarteera-Vorstand. Dabei konzentriert sich die Arbeit vor allem auf das Thema Queer und erst in zweiter Linie auf den Stadtteil. So wie die Teilnehmenden der Marzahn Pride nicht unbedingt aus Marzahn kommen, so sind die Angebote von Quarteera auch nicht auf den Stadtteil beschränkt. Der Verein macht stadtweit Veranstaltungen zu queeren Themen, aber auch zu Demokratie oder zu toxischen Eltern. Es werden Protestveranstaltungen organisiert, in einem Wohnheim in Kreuzberg vermietet der Verein seit zwei Jahren kurzfristig Räume für queere Menschen, die geflüchtet sind. „Gut 80 Prozent sind aus der Ukraine“, sagt Dmitrij Paramonov.

Fabrik Osloer Straße e.V.: Vielfalt Alltag werden lassen

Eine Fahne des Netzwerks „Berlin gegen Nazis“ hängt über der Hofeinfahrt der Fabrik Osloer Straße in Gesundbrunnen. Nur wenige Meter weiter ist eine Regenbogenfahne angebracht. Das Stadtteil- und Familienzentrum macht direkt am Eingang klar, wofür es steht. „Wir haben hier eine sehr politisierte Herangehensweise. Das hängt mit der Geschichte der Gründung zusammen, die war von 40 Jahren auch ein politischer Akt“, sagt Bettina Pinzl, Geschäftsführerin des Vereins Fabrik Osloer Straße. Wie ein roter Faden ziehe sich diese politische Haltung durch die Geschichte des Hauses. Von den Anfängen mit einer Fast-Besetzung bis zu einem der wichtigen Projekte heutzutage: Demokratie in der Mitte. „Alle, die zu unseren Angeboten kommen, ob zum Babyturnen oder zum Sprachkurs, treffen hier auf einen offenen Ort mit unterschiedlichsten Menschen – dafür stehen wir“, sagt Bettina Pinzl.

Am Infostand der Fabrik Osloer Straße beim Musikfestival Panke Parcours © Dominique Hensel

„Ich finde es wichtig, als Stadtteil- und Familienzentrum bewusst ein Demokratieprojekt vor Ort zu haben, denn das gibt Impulse in den Stadtteil und ins Team selbst“, sagt die Geschäftsführerin, die lange selbst das Demokratieprojekt leitete. In den verschiedenen Teams arbeite man permanent daran, Vielfalt zu Alltag werden zu lassen. Dazu gehört in der Fabrik auch ganz viel Reflektion über Empathie, Diskriminierung und den Umgang mit Verschiedenheit. „Ich finde es zum Beispiel wichtig, dass wir die Sprachen der Menschen sprechen“, sagt Bettina Pinzl. Das gelte für Beratungen und Kurse für Geflüchtete aus der Ukraine, syrische oder türkische Nachbarinnen und Nachbarn. An einer Wand hängt deshalb eine Tafel, die die Mitarbeitenden zeigt und die von ihnen gesprochenen Sprachen vermerkt. Zu sehen ist: Die Fabrik Osloer Straße ist sprachlich breit aufgestellt.

Die Bedeutung von Stadtteilarbeit könne nicht hoch genug eingeschätzt werden, findet Bettina Pinzl: „Wenn man sich die Wahlergebnisse anschaut und sieht, wohin diese Gesellschaft gerade geht, dann liegt eine große Verantwortung auf offenen Orten wie unserem, dem etwas entgegenzusetzen.“